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Berlinale 2024 - eine Top 10

47 Filme habe ich auf der 2024er Berlinale gesehen. Hier sind meine Favoriten eines im Vergleich zum Vorjahr vielleicht nicht ganz so starken Jahrganges.

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Matt and Mara

Mit Matt and Mara legt Regisseur Kazik Radwanski nach seinem Aufsehen erregenden Debüt Tower aus dem Jahr 2012 und den darauffolgenden How Heavy this Hammer (2015) und Anne at 13,000 Feet. (2019) seinen vierten Spielfilm hin. In dieser kleinen, aber keineswegs unbedeutenden romantischen Komödie arbeitet der Vertreter der neuen kanadischen Welle erneut mit Deragh Campbell zusammen, der er den endlos charismatischen Matt Johnson zur Seite stellt. Wann immer die beiden sich die Szene teilen, macht Radwanski maximalen Gebrauch von der Chemie, die die beiden vor der Kamera ausstrahlen. Im Stile des Slice-of-Life-Genres läuft diese Geschichte nicht notwendigerweise auf ein Ziel hinaus, sondern fängt, ohne allzu große Wehmut, schlicht den kurzen Moment im Leben zweier Schriftsteller*innen ein, die sich nach Jahren wieder treffen und sie, wie auch uns, darüber sinnieren lassen, wie das Leben manchmal andere Wege für uns bereithält — selbst (oder vielleicht besonders dann), wenn unsere Pfade doch eigentlich so klar vorgezeichnet scheinen.

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The Empire

Man mag sich angesichts der zahlreichen Millionen, die Bruno Dumont für seine Science-Fiction-Satire zur Verfügung gestellt wurden, durchaus über die Verhältnismäßigkeit streiten. Noch mehr mag sich nach der Sichtung L’Empires darüber gestritten werden, ob Dumonts künstlerischer Ansatz Erfolg hat. Schließlich ist Humor bekanntlich einer der subjektivsten Aspekte in der Kunstrezeption. Es wird sich allerdings schwerlich bestreiten lassen, dass Dumonts Beobachtungsgabe, mit der er die Codes und Konventionen des Blockbuster- und Superheldenkinos der letzten Jahrzehnte aufgreift und den intergalaktischen Kampf zwischen Gut und Böse in der französischen Provinz situiert, doch von großer Originalität ist.

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Favoriten

Es ist noch nicht allzu lang her, dass Maria Speths Herr Bachmann und seine Klasse auf der 2021er Online-Berlinale den Jury-Preis mit nach Hause nahm und später auch beim Deutschen Filmpreis als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde. Ruth Beckermanns Favoriten, der in der Encounters-Sektion der 2024er Berlinale anlief, verfolgt ein sehr ähnliches Konzept, verlegt den Schauplatz ihrer Dokumentation allerdings in die Heimat der gebürtigen Wienerin. Im Bezirk Favoriten, dem bevölkerungsreichsten Stadtteil Wiens, begleitete sie dort von 2020 bis 2023 die Schulklasse der Lehrerin Ilkay Idiskut an der größten Volksschule der österreichischen Hauptstadt. Von der zweiten bis zur vierten Klasse — das Jahr, in dem schließlich der folgenschwere Schulwechsel zur weiterführenden Schule ansteht  — sehen wir die gleiche Gruppe von Schüler*innen hauptsächlich migrantischen Hintergrunds. Im Gegensatz zu Speths Herr Bachmann versucht Beckermann, die Struktur aufzubrechen und stattet die Schülerin eingangs mit Handys aus, deren Kameras die Schüler*innen dazu nutzen sollen, eigene Videos zu drehen. Auch versucht Beckermann, anders als Speth, nicht, sich selbst aus dem Bild zu nehmen, was bedeutet, dass wir Beckermann immer mal wieder ins Geschehen eingreifen sehen und hören. Und wenngleich dies letztlich nicht die Höhen des Quasi-Vorbilds Herr Bachmann erreicht, muss man schon ein Herz aus Stein in sich tragen, um am Ende nicht berührt zu sein, wenn die Schüler*innen von ihrer Klassenlehrerin Ilkay Abschied nehmen.

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No Other Land

Wenn am Rande der Preisverleihung der 2024er Berlinale Mati Diops Gewinn des Goldenen Bären ein Stück weit in Vergessenheit geriet, so war dies weniger den Qualitäten ihres Sieger-Films Dahomey denn vielmehr der Auszeichnung No Other Lands als besten Dokumentarfilm zuzuschreiben. Denn als die beiden Freunde und Filmemacher Basel Adra und Yuval Abraham die Bühne betraten und der Palästinenser Adra im Rahmen der Dankesrede zunächst den Stopp deutscher Waffenlieferungen an Israel forderte, bevor der jüdische Israeli Abraham noch einen Schritt weiterging und forderte, dass die „Apartheid-Situation“ zwischen Israelis und Palästinensern mitsamt der israelischen Besatzung enden müsse, fand dies im Berlinale-Palast zwar große Zustimmung. Da sich im Laufe der Preisverleihung aber noch weitere Filmemacher*innen wie Ben Russell, Verena Paravel und Mati Diop für eine Waffenruhe in Gaza aussprachen, ohne, dass an die Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober erinnert wurde, löste dies, in Deutschland, angefeuert von Reaktionen aus der Politik, hitzige Debatten aus. Besonders regressiv geriet diese durch einen Kommentar des Berliner CDU-Bürgermeisters Kai Wegner, der in Richtung der künftigen Festivalleitung um die designierte Intendantin Tricia Tuttle vorausschickte, er erwarte, „dass sich solche Vorfälle nicht wiederholen“.

Angesichts des medialen Echos und Antisemitismusvorwürde geriet das durch No Other Land tatsächlich Dokumentierte — die wiederholten Zerstörungen von Wohnhäusern- und siedlungen der palästinensischen Gemeinde Masafer Yatta durch das israelische Militär — einmal mehr in den Hintergrund. Gemeinsam mit den beiden Co-Regisseur*innen Hamdan Ballal und Rachel Szor filmten Basel Adra und Yuval Abraham zwischen 2019 und 2022 wiederholt Grenzübertritte der israelischen Armee sowie bewaffneter Zivilisten, die bisweilen zusammenarbeiten und schwer auseinanderzuhalten sind. In No Other Land spiegelt sich einer der beklagenswerten roten Fäden dieser Berlinale: die Vertreibung, und die Art und Weise, wie die Menschen, die ihr ausgesetzt sind, auf diese reagieren. Unser Sehnen nach einem Happy End, das sich mit jeder Minute der nur schwer erträglichen 95 Minuten Laufzeit mehr aufdrängt, erhält gegen Ende noch einmal einen entschiedenen Schlag in die Magengegend. Wenn sich nach Sichtung von No Other Land noch hoffen lässt, so ergibt sich diese Hoffnung aus der so unwahrscheinlichen Allianz der Freundschaft zwischen Basel und Yuval, die das Herzstück des Filmes darstellt.

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Pepe

Neben Mati Diops Dahomey stellte Pepe 2024 den zweiten Wettbewerbstitel da, der Voice-Over im Sinne einer kolonialen Aufarbeitung einsetzt. Nachdem Nelson Carlo de los Santos AriasCocote 2017 in Locarno bereits ob seiner überbordenden Visualität für Aufsehen sorgte, setzt sein vierter Spielfilm Pepe gewissermaßen genau dort an. Im Zentrum steht das Flusspferd Pepe, das einst von Pablo Escobar für den hauseigenen Zoo seiner Hacienda nach Kolumbien geschmuggelt wurde und schließlich zur nationalen Ikone avancierte, als es nach dem Tod des Drogen-King-Pins vom Militär erschossen wurde. Der Anfang bildet in dieser wunderbar arrangierten Collage, die in mehreren Sprachen, Bildformaten, Texturen und Generationen gestaltet und auf mehreren Kontinenten angesiedelt ist, auch das Ende. Inmitten dieser Rahmung erzählt de los Santos Arias von kolonialem Erbe, von Entwurzelung, Verdrängung und Umsiedelung. Die Mixtur aus analogem Film, Archivmaterial und kaum merklichen digitalen Elementen gelingt hier auf solch beeindruckende Weise, dass Pepe schon jetzt als einer der schönsten Filme des Jahres gelten kann.

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A Different Man

Es ist ein verstörender Gedanke: Kann uns die eigene Geschichte dergestalt verlustig gehen, dass wir nicht mehr als deren authentischer Erzähler*in durchgehen? Nicht in dem Sinne, dass wir Aspekte vergessen, zur Sprache zu bringen, sondern vielmehr dadurch, dass sich unsere Lebensumstände so sehr verändern, dass wir, trotz unserer durchlebten Erfahrungen, nicht mehr für die geeignete Person gehalten werden, jene Erfahrungen zu schildern. Das Szenario, das Aaron Schimberg in A Different Man aufwirft, ist nicht weniger als beunruhigend. Oder, vielmehr: die Szenearien. Denn um die Ausgangssituation, die zunächst noch so klar umschrieben scheint, bildet sich mit fortschreitender Laufzeit — wenn die Ereignisse zunehmend Groteske Formen annehmen — Metaschicht um Metaschicht, die die bisherigen Geschehnisse ein ums andere Mal rekontextualisieren. So weit führt Schimberg diese Gedankenexperimente, dass es gegen Ende so scheint, als habe auch Schimberg die Übersicht über all die Themen verloren, die er meist nur anschneidet, statt sie vollends zu bearbeiten. Bis dahin allerdings eröffnen sich Fragen über Fragen, die es lohnen, sie nach dem Ende des Abspannes zu diskutieren.

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Was hast du gestern geträumt, Parajanov?

Der persönliche Essay ist ein durchaus heikles Genre, der schnell in den Verdacht des Solipsismus gerät. Das Debüt des DFFB-Alumnus Faraz Fesharaki, der bislang vor allem als Kameramann in Erscheinung trat (etwa für Alexander Koberidzes gefeierten What Do We See When We Look at the Sky), läuft allerdings zu keinem Zeitpunkt Gefahr, sich in einer Nabelschau zu verlieren — was auch daher rühren mag, dass sich der gebürtige Iraner vor allem auf seine Eltern konzentriert. Er habe diese Worte geschrieben, weil er sie nicht sagen wolle, so sagt es Faraz an einer Stelle. Und tatsächlich scheint Faraz‘ Projekt damit ganz wunderbar beschrieben. Denn in den fragmentarisch arrangierten Skype-Aufnahmen, die aus seinem jahrelangen Austausch mit seinen Eltern stammen, drückt sich Vieles aus, was sich andernfalls nur schwer in Worte überführen ließe.

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Dahomey

Ihre beiden ersten Spielfilme haben der französisch-senegalesischen Mati Diop bereits mehr Erfolg eingebracht, als einige ihrer Kolleg*innen nach Jahrzehnten im Filmgeschäft für sich in Anspruch nehmen können. Nachdem ihr Debüt Atlantique 2019 nicht nur im Wettbewerb von Cannes antrat, sondern dort gleich den Jury-Preis gewinnen konnte, darf sich Diop nach ihrer Berlinale-Premiere nun den Titel des Goldenen Bären ans Revers heften. Wie Atlantique ist auch Dahomey eine Geschichte der Wiederkehr — eine weniger unheimliche zwar, wenngleich in ihren Implikationen nicht minder gewaltvoll. Dahomey, diesen Namen trug das westafrikanische Land Benin bis ins Jahr 1975, als Mathieu Kérékou, der sich an die Macht geputschte Präsident der damaligen Militärregierung, den Staat eigenhändig umtaufte. 2021 hatte Frankreich der Rückführung von 26 geraubten Exponaten an das einstige Kolonialreich zugestimmt, was zugleich die erste Restitution solchen Ausmaßes durch eine ehemalige Kolonialmacht bedeutete.Mati Diop dokumentiert diesen Prozess auf ausgesprochen filmische und gar kunstvolle Weise. Was andernfalls leicht dröge ausfallen könnte, wird hier zu einer umfassenden und intellektuell gehaltvollen Auseinandersetzung mit postkolonialer Theorie und Praxis. Eingefangen wird dies in einem Panorama, das uns nicht nur Einblicke in die logistischen Komplikationen gewährt, die eine solche Rückführung mit sich bringt, sondern auch in die urbanen Feierlichkeiten, mit denen die in eigens dafür beschrifteten, anfahrenden Transporter empfangen werden sowie die öffentlichen Diskussionen, die anlässlich dieses Großereignisses an einer Universität abgehalten werden.

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Direct Action

Seit den 1960er Jahren hat es im Nordwesten Frankreichs wiederholt Aufstände gegen die französische Politik gegeben, der es vorschwebte, einen neuen Großflughafen unweit von Nantes zu errichten. Ende der 2000er begannen einige Aktivist*innen, sich permanent in der betroffenen Region Notre-dames-des-landes niederzulassen und das Land zu besetzen. Zu dieser Zeit formierte die französische Regierung neue Anstrengungen, das große Flughafenprojekt entgegen der lokalen Bevölkerung in die Wege zu leiten. Als die Staatsgewalt 2012 versuchte, die Besetzer*innen zu vertreiben, rief sie damit größte Widerstände hervor, die sich in Form einer sogenannten Zone à defendre, einer autonomen, von Besetzer*innen verwalteten Region, organisierte. Es entbrannte ein mehrere Jahre anhaltender, oft gewaltsam ausgetragener, Konflikt, der 2018 mit der Verkündung Emmanuel Macrons, man werde das Projekt nicht weiterverfolgen und stattdessen den Flughafen von Nantes erweitern, ein Happy End fand.

Gleichwohl, all dies bildet nur den Prolog für Guillaume Cailleaus und Ben Russells Direct Action. Nachdem der Amerikaner Russell 2020 auf neue Proteste aufmerksam wurde, die sich angesichts des neu geplanten Wasserreservoirs in Sainte-Soline bei Poitiers formierten, kontaktierte er Freund und Kollegen Cailleau, der wiederum Kontakte zum ZAD herstellte. Über zwei Jahre hinweg verbrachten sie dann, im Zweimonatsrhythmus, wiederholt Zeit vor Ort und nahmen am Leben der Aktivist*innen und Farmer*innen teil. Entstanden ist daraus ein dreieinhalbstündiger Einblick in das Leben des kommunenartigen Lebens, dessen politisierender Sprengstoff sich nicht aus dem scheinbar zentralen Konflikt ergibt, sondern dadurch, dass die Prozesse von Arbeit und kreativen Schaffens hier entgegen der kapitalistischen Produktivitätsmaxime nicht vom Ende, sondern vom Beginn gedacht werden.

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You Burn Me

.Die Geschichte des Kinos war seit den frühesten Anfängen auch eine Geschichte der Adaption, sei es von der Bühne oder Text, via Dramatik oder Prosa, auf die Leinwand. Gerade zu Beginn äußerte sich darin ein auffälliger Widerspruch, suchte das von der Kritik als schlichte Massenbespaßung abgetane Kino seine gesellschaftlichen Aufwertung zum eigenständigen Medium doch gerade durch literarische Stoffe herbeizuführen. Matías Piñeiro zeigt uns mit Tú me abrasas eindrucksvoll, wie sich eine Literaturadaption im Jahr 2024 denken lässt. Wenngleich sich die Eingangsminuten ein wenig wie eine Hausarbeit anlassen, indem wir zunächst mit Kontext zu Cesare Pavese und der griechischen Dichterin Sappho vertraut gemacht werden, bevor uns der Aufbau des zu sehenden Filmes nähergebracht wird, hat Tú me abrasas doch wenig von der Zumutung einer Hausarbeit. Und gleichwohl Piñeiros Ansatz zunächst obskur und unzugänglich anmuten mag, so gewinnt sein Ansatz, das Pavese’sche Kapitel Meeresschaum in einen Film zu übersetzen, mit zunehmender Laufzeit an Sogkraft, sodass wir am Ende das Medium Film ein kleines Stückchen weiter entwickelt sehen.

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