Inhalt
Inspector Joshi ist ein trauernder Vater auf der Suche nach seiner Tochter Aruna, die vor Jahren entführt wurde. In seiner Verzweiflung verschwimmt die Realität mit einem immer wiederkehrenden Traum, in dem Joshi eine schemenhafte Figur verfolgt, die ihn ins "Paradise" führt, ein Nachtclub, in dem junge Mädchen für das lüsterne Publikum tanzen. Er ist überzeugt, Aruna dort zu finden und schwört, dass er sie seiner Frau Leela zurückbringt.
Kritik
Mit indischem Kino werden meist ausschließlich Filme in Verbindung gebracht, die der Bollywood-Industrie entstammen. Neben diesen Werken, in denen für gewöhnlich ein eher erheiternder Ton angeschlagen wird und ausschweifende Tanzszenen sowie Musicalnummern an der Tagesordnung stehen, lohnt sich allerdings hin und wieder ein Blick über den Tellerrand zu kleineren Indie-Produktionen wie zum Beispiel Partho Sen-Guptas Sunrise.
Jeglicher Glanz, den man aus den Bollywood-Filmen kennt, wird in diesem Film auf drastische Weise ins Gegenteil gekehrt. Sen-Guptas Film spielt beinahe vollständig in der Nacht, wobei fast jede Szene von prasselndem Regen begleitet wird. Der Regisseur verleiht seiner Geschichte eine extrem düstere Atmosphäre, die an Neo-Noir-Streifen erinnert und hinter jeder Ecke, in verlassenen Gassen und gespenstischen Straßenzügen bedrohliche Gefahren vermuten lässt. Dabei wird zunächst lange Zeit gar nicht klar, worum es in Sunrise eigentlich geht. Ohne jegliche Form erklärender Dialoge verfolgt man einen Polizisten, der durch heruntergekommene Straßenviertel hetzt, um einer Schattengestalt hinterherzujagen. Sein Weg (oder Unterbewusstsein) führt Joshi in einen unwirklichen Nachtclub, in dem junge Mädchen auf der Bühne zu einer Mischung aus traditionellen, indischen Klängen und pumpenden Electro-Beats für lüsterne, männliche Kundschaft tanzen.
Mit der Zeit wird klar, dass Sen-Gupta Albtraum und Realität durcheinander wirbelt und daran interessiert ist, in die von Schuldgefühlen belastete Psyche der Hauptfigur einzutauchen, dessen Tochter vor Jahren entführt wurde. Die Inszenierung des Regisseurs erinnert durch die spärlich ausgeleuchteten Settings und den surrealen Einsatz kräftiger Farbmuster sowie unangenehm wummernder Töne an unkonventionelle Filme wie etwa Nicolas Winding Refns Only God Forgives oder David Lynchs Lost Highway. Ähnlich wie diese Regisseure verlässt sich Sen-Gupta ebenfalls auf hypnotisch in Szene gesetzte Seelenkäfige. Außerdem wird das Motiv der berühmten Möbiusschleife sichtbar, nachdem die Hauptfigur zum wiederholten Male am gleichen Ort in der exakt selben Situation angelangt, an der sie sich schon einmal befand.
Spurenelemente einer Handlung sind aber trotzdem auszumachen, auch wenn diese inmitten unkonkreter Sprünge zwischen Realität, Albtraum und Fantasie wirr platziert wurden. Die Texteinblendung zu Beginn des Abspanns bringt die schwere Thematik von Sunrise daher noch einmal auf den Punkt, denn hier wird darauf hingewiesen, dass in Indien jährlich 100 000 Kinder entführt werden, die nie wieder auftauchen, als Sklaven zur Arbeit gezwungen werden oder in der Zwangsprostitution landen. Sen-Gupta hat mit seinem Werk daher ein klares Statement setzen wollen, das die Missstände in seinem Land, über die niemand so richtig sprechen möchte und gerne unter den Teppich kehrt, offen anprangert.
Trotz des fesselnden ersten Drittels, in dem sich lose, albtraumähnliche Szenarien, persönliches Charakterdrama und Gesellschaftskritik ebenso homogen wie intensiv zusammenfügen, gerät dem Regisseur sein Werk mehr und mehr aus der Spur. Sunrise fühlt sich noch zu sehr wie eine stilistisch überaus ausgefeilte Fingerübung an, bei der sich Sen-Gupta auf eindringliche Weise für Größeres empfiehlt. Durch das ständige Wechseln der Bewusstseinsebenen verliert man als Zuschauer jedoch irgendwann das Interesse an den Schicksalen der Figuren, da sich ein Großteil des Geschehens auf auf einem suggestiven Niveau abspielt, während den realen Tatsachen nur noch eine Nebenrolle zuteil wird.
Fazit
In "Sunrise" bewegt sich Partho Sen-Gupta auf einem handwerklich beeindruckenden Level, was düstere Atmosphäre und surreale Albtraumszenarien betrifft. Erzählerisch lässt der Regisseur dagegen noch merklich Luft nach oben, da sich seine Geschichte der Inszenierung zu stark unterordnen muss.
Autor: Patrick Reinbott