Inhalt
24 Stunden in L.A. Neun Menschen. Neun Schicksale. Wie ein Spinnennetz sind alle miteinander verwoben. Und ein gewaltiger Sturm an Gefühlen bricht über sie herein. Wie bei Frank T.J. Myckay. Ist es Zufall, daß der charismatische Sex-Prediger gerade heute, nach so vielen Jahren, seinen Vater wiedersieht? Seine verhaßte Kindheit kommt wieder hoch, und dennoch wurde er genau wie sein Vater, der erfolgreiche TV-Produzent Earl Partridge, ein Star im Medienrummel. Und was ist mit der schönen, mondänen Linda, Earl's Frau? Sie besitzt alles, was mit Geld zu kaufen ist, ist aber grenzenlos einsam. Erst dann, als Earl im Sterben liegt, findet sie heraus, was Liebe heisst.
Kritik
Der Werdegang von Paul Thomas Anderson (Licorice Pizza) scheint wie ein unwirkliches Hollywood-Märchen, allerdings ohne Kitsch und Pathos. Mit 26 Jahren führte er erstmals bei einem Kinofilm Regie (Last Exit Reno, 1996), konnte dort bereits mit namenhaften Darstellern zusammenarbeiten und erntete durchgehend positives Feedback seitens der Kritik. Nur ein Jahr später folgte sein Epos Boogie Nights über die Golden Era des Pornofilms, mit dem sein Schöpfer auf einen Schlag weltberühmt wurde. Bei den Oscars ging sein dreifach nominiertes Werk zwar leer aus, dafür verhalf es Burt Reynolds (Beim Sterben ist jeder der Erste) zu seinem ersten und einzigen Golden Globe als Bester Nebendarsteller. Und plötzlich standen PTA alle Türen offen. Bei seinem Folgefilm Magnolia griff er zwar ohnehin auf geschätzt ¾ des Boogie Nights-Cast zurück, konnte ihn aber noch um Weltstars wie Tom Cruise (Top Gun: Maverick) oder den damals schon schwer kranken Oscar-Preisträger Jason Robards (Die Unbestechlichen) erweitern. Für Robards, der hier auch einen Mann auf seinem Sterbebett spielt, war es der letzte Kinofilm, bevor er am 26.12.2000 im Alter von 88 Jahren verstarb.
In den ersten von insgesamt stattlichen 188 Minuten demonstriert Paul Thomas Anderson anhand von drei kurzen Beispielen, was er in den folgend drei Stunden in nun epischer Länge für uns bereithält. Wie viel Zufall kann noch in einer Verkettung von nahezu kuriosen Zufällen stecken, bevor man allgemeinhin von Schicksal oder gar göttlichen Fügungen sprechen mag? Was zu Beginn kurz und knapp auf den Punkt gebracht wird, entblättert sich nun innerhalb von 24 Stunden im Leben von neuen Menschen in Los Angeles. Da wären der dahinscheidende Patriarch Earl Partridge (Jason Robards), der in den letzten Stunden von seinem engagierten Palliativ-Pfleger (Philip Seymour Hoffman, Capote) betreut wird. Die zukünftige Witwe Linda (Julianne Moore, Hannibal) bereut nun zutiefst, dass sie ihn einst nur wegen seines Geldes ehelichte und zerbricht beinah an dieser Schuld. Earl’s letzter Wunsch ist es, sich mit seinem entfremdeten Sohn nochmal auszusprechen. Frank (Tom Cruise) hat sich vor Jahren von ihm abgewandt und seitdem eine steile Karriere als fragwürdiger Sex-Guru gemacht, der frustrierten Mannsbildern den Wunschgedanken vorgaukelt, dass man mit drastischem Selbstbewusstsein jede Frau ins Bett bekommt. Getreu dem eigenen Slogan „No Pussy has Nine Lives“.
In sein Beuteschema würde auch der einsame Polizist Jim (John C. Reilly, Stan & Ollie) fallen, den es wegen Ruhestörung zu der Wohnung von Claudia (Melora Walters, Unterwegs nach Cold Mountain) führt. Diese hängt überwiegend in Bars ab und lässt sich selbst von den ekelhaftesten Kerlen abschleppen, wenn dafür eine Nase Koks rausspringt. Jim verliebt sich sofort in sie, obwohl ihm ihre Probleme kaum verborgen bleiben können. Warum sie so ist, wie sie ist, liegt wohl tief vergraben in der Beziehung zu ihrem Vater Jimmy Gator (Philip Baker Hall, The Rock – Fels der Entscheidung), der seit Jahrzehnten die überaus erfolgreiche Show „What Kids do know“ moderiert. Allerdings wurde bei ihm gerade eine unheilbare Form von Krebs diagnostiziert, ganz abgesehen davon, dass er ohne einen strammen Pegel gar nicht mehr vor die Kameras treten kann. In seiner Show steht das 12jährige „Wunderkind“ Stanley (Jeremy Blackman, Zigs) kurz davor, den Rekord vom ehemaligen „Quiz Kid“ Donnie Smith (William H. Macy, Fargo) zu brechen. Dieser ist 30 Jahre nach seinem Ruhm endgültig vom Glück verlassen, als er auch noch aus seinem Job in einem Elektronikmarkt gefeuert wird und insgeheim verliebt in den Barkeeper seiner Stammkneipe ist.
Ein Film über das Scheitern, verpasste Chancen, Vergebung, späte Reue und nicht zuletzt über die Liebe, alles im vermeidlichen (Un)Gerechtigkeits-Korsett des Zufalls, was sich letztlich vielleicht doch als großer Masterplan des Schicksals herausstellen soll. Paul Thomas Anderson nimmt sich hier wahnsinnig viel vor und überwiegend muss man vor der Bewältigung dieser Mammutübung den Hut ziehen. Allein die Tatsache, dass die Vielzahl der Figuren trotz der stetig wechselnden und erst gen Ende halbwegs zusammenhängenden Erzählperspektive genügend Tiefe und Glaubwürdigkeit erhalten, zeugt für das ungemeine Talent des Autors PTA. Gefühlt ist hier niemand eine Nebenfigur und jedes Einzelschicksal wiegt gleichbedeutend auf. Das sorgt für einen wunderbaren Erzählfluss und zahlreiche, berührende Momente, die drei Stunden wie im Flug vergehen lassen. Einen gehörigen Beitrag dazu leisten natürlich die exzellenten Darsteller, speziell Julianne Moore, Tom Cruise, Philip Baker Hall und Melora Walters liefern hier Höhepunkte ihres persönlichen Schaffens ab. Leicht problematisch ist die bewusst heraufbeschworene Schwere und das gewollt Prätentiöse, auf das der hochbegabte Filmemacher am Ende zusteuert.
Boogie Nights war augenscheinlich „nur“ eine herkömmliche Rise & Fall-Story, dafür mit einer Detailversessenheit, einem Esprit und mit so unglaublich viel Leidenschaft vorgetragen, dass es kaum besser vorstellbar sein könnte. Der 2002 folgende Punch-Drunk Love war eine im Verhältnis bescheidene, aber umso eindringlichere Außenseiter-Love-Story. Dieser wie selbstverständlich anmutende Zauber geht Magnolia ein kleinwenig ab, da er sich selbst viel künstlichen Ballast auf den Rücken schnallt. Alles zu einem großen Ganzen verbinden will (was tatsächlich so gar nicht flächendeckend stattfindet) und dazu auch noch mit christlich-religiösen Metaphern durchzogen, die im großen Finale den Film im wahrsten Sinne des Wortes beinah erschlagen. Dass PTA dies in seinen späteren Filmen nicht mehr in dieser Größenordnung versuchte oder insgesamt fokussierter auf weniger Facetten war (die dafür dann auch gerne groß und ausgiebig, siehe There Will Be Blood oder The Master), kann auch als positiver Lernprozess verstanden werden. Damit grenzte er den Mainstream zwar überwiegend noch mehr aus als er es ohnehin schon hier tat, aber deutlich sinnstiftender und effektiver. Nichtsdestotrotz ist Magnolia ein faszinierender und partieller mehrfach grandioser Kraftakt, der nur mit so viel selbstbeladenen Gepäck auf dem Buckel vorm Erklimmen des Gipfels etwas ins Straucheln gerät.
Fazit
Schlussendlich vielleicht etwas zu viel des Guten, dass sich „Magnolia“ auf dem langen Weg dorthin aber nicht schon vorher heillos verzettelt und stattdessen viele eindringliche und berührende Akzente setzen kann, liegt an dem großen Talent seines Schöpfers. Paul Thomas Anderson lässt selbst das komplizierteste Vorhaben aussehen, als wäre es eine Fingerübung. Zudem mit einem spielfreudigen und begnadeten Cast versehen. Wer so was mit 39 Jahren im Haifischbecken Hollywood ganz selbstbewusst auf die große Kinoleinwand bringen kann, der ist mehr als nur ein „Wunderkind“.
Autor: Jacko Kunze