Inhalt
Was kann ein Individuum ausrichten, wenn es einem herzlosen Staat gegenübersteht? Kolia (Alexey Serebryakov) lebt als einfacher Automechaniker im rauen, schönen Norden Russlands. Zusammen mit Frau und Sohn bewirtschaftet er das Fleckchen Land an der Küste der Barentssee, das bereits seit Generationen im Besitz seiner Familie ist. Die unberührte, atemberaubende Landschaft lockt bald den durchtriebenen Bürgermeister Vadim (Roman Madyanov) an, der mit allen Mitteln einer korrupten Bürokratie versucht Kolia von seinem Land zu vertreiben. Eine belastende Akte, die Kolias Jugendfreund Dimitri zu Tage fördert, soll Vadims Enteignungsplänen ein Ende setzen. Doch Vadim hat genügend Geld und mächtige Verbündete in Moskau…
Kritik
„Insekt! Du Ratte hast keine Rechte und wirst nie welche haben!“, keift der fett-feiste, korrupte Bürgermeister und „Leviathan“ tritt an, um die Gnadenlosigkeit, mit der die Mächtigen in Russland die Machtlosen zertreten, auf 140 allegorischen Minuten zu beweisen. Andrej Swjaginzew (Goldener Löwe für „The Return“) erstellt ein Arthaus-Gesellschaftsbildnis von Heuchelei, Untreue, Filz und Verrat, eine Inventur des Unglücks.
Bei den Golden Globes 2015 als bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet und mit besten Chancen, dies bei den Oscars zu wiederholen, hat „Leviathan“ die russischen Behörden aufgeschreckt, die nun ein Gesetz erlassen haben, unter dem Vorwand der Vulgarität alle Produktionen, die nicht patriotisch genug ausfallen, als anti-russisch zu verdammen und zu verbannen. Das bestätigt exakt, was dieses traurige Epos dem Staat vorwirft.
Hobbes’scher Leviathan, dessen Zorn Existenzen ruiniert
Denn Vadim, der selbstherrliche Politikpate, der auf Nikolais Widerstand hin mit Schlägern, willfähriger Justiz und Polizei zum Vernichtungsschlag ausholt, agiert mit der Absolution des Kirchenpatriarchen und im Namen des Putin-Portraits in seinem Amtszimmer. In Swjaginzews dem biblischen Hiob nachempfundenen Leidensweg spielt der Staat selbst Gott, er ist der Hobbes’sche Leviathan, ein Monstrum, dessen Zorn Existenzen ruiniert.
Den Abstieg des versoffen-gewalttätigen Hitzkopfs Nikolai schildert „Leviathan“ distanziert genug, um keine großen Sympathien zu wecken, obwohl wahrlich alle Verlierer sind, die bitter bezahlen müssen und in zunehmender Lebensmisere reichlich Verzweiflung erfahren. Das Gleichnishafte überwiegt in einer oft als Satire aufgefassten, kafkaesken Justizmühlentragödie, die Putins System der Rechtlosigkeit von Innen zeigt.
Geistig-moralischer, gesellschaftlicher Verfallprozess
Dass die hypnotische Musik von Philip Glass – „Koyaanisqatsi“ sehr ähnlich – die trübe, fremdartige Landschaft der Barentsee am arktischen Ozean einhüllt, verleiht viel Wucht: Das Leben in dieser eigentlich wunderschönen Weite ist nur in betrunkenen Zustand erträglich. So saufen die Figuren bis zum Umfallen, verrottende Schiffswracks sind die physischen Abbilder eines geistig-moralischen, gesellschaftlichen Verfallprozesses.
Dies ist eine Gastkritik von Thorsten Krüger und kommsieh.de
Fazit
Roma am Walskelett, eine Kirchenruine, erhellt vom Lagerfeuer wie eine Ikone in der Finsternis, oder eine leere Tonne, herumgeworfen von schäumend-wilder Brandung – all das sind starke, vielsagende Symbole. „Warum, Gott? Ich verstehe das alles nicht“, fragt Nikolai. Nur es ist nicht Gott, dessen Baggergreifarm sein Wohnzimmer zerstört – es sind die Starken in Putins Russland, die dies straffrei verbrechen. Aber Gott sieht alles.