Inhalt
Die erwachsene Alice fährt nach Frankreich, um ihre Mutter, die sie als Kleinkind zur Adoption freigab, weil sie als RAF-Mitglied auf der Flucht war, mit ihrer Vergangenheit zu konfrontieren. Zuerst gibt sich Alice auf dem Hof ihrer Mutter, die mittlerweile als Judith mit zwei Kindern und französischem Mann ein bürgerliches Leben lebt, als Unfallopfer aus.
Kritik
Susanne Schneiders Mix aus politischer und familiärer Vergangenheitsbewältigung könnte vieles sein: ein spannender Thriller, ein hintergründiges Familiendrama, ein komplexes Persönlichkeitsporträt. Leider ist das ambitionierte Drama nichts davon. Die frontale Inszenierung verrät viel zu viel viel zu schnell verraten. Ein Aufbau psychologischer Spannung wird somit von vornherein ausgehebelt. Einzig die hervorragenden Darstellungen, allen voran die Katharina Schüttlers, bewahren die unausgegorene Geschichte vor der Albernheit. Ihr vorgeblich zufälliger Einzug in das Gästezimmer, das Familienvater Jean-Marc (Jaques Frantz) ihr vermietet, entpuppt sich als genau geplant. Zu den jugendlichen Kindern Francine (Sophie-Charlotte Kaissling-Dopff) und Lukas (Sebastian Urzendowsky) baut Alice mit genau kalkuliertem Einfühlungsvermögen Kontakt auf. Nur die resolute Mutter Judith (Iris Berben) begegnet dem Eindringling mit Argwohn.
Längst weiß man hier, dass Alice Judiths Tochter ist, dass Judith als gesuchte RAF-Terroristin untertauchen musste und Alice Beweise für Judiths kriminelle Vergangenheit mitgebracht hat. Verdient hat die verworrene Story die großartigen Darstellerinnen kaum. Anstatt sich auf den emotionalen Krieg und das zaghafte Aufbrechen der verhärteten Fronten zu konzentriere, verheddert die Regisseurin den Handlungsfaden mit einem überflüssigen Kriminalplot. Die nunmehr wohlhabende Gutsbesitzerin Judith, die es sich mit Mann und Kids in der Oberschicht bequem gemacht hat, muss eine untergetauchte RAF-Terroristin sein. Gewöhnliche Kriminalität genügt nicht, es muss ans Eingemachte gehen, damit der Film eine extra Portion Relevanz behaupten kann. Die persönliche Bedeutung der RAF-Verwicklung für Judith ergründet Schneider nicht, die politische Dimension des Themas ignoriert sie komplett. Statt das Konfliktpotenzial der Charaktere auszureizen, schleift der Plot deren Ecken und Kanten systematisch ab. Umso besser man die Figuren kennenlernt, umso gewöhnlicher und leider auch langweiliger werden sie. Alice’ ursprüngliche Absicht ist nicht, wie sie behauptet, Judith zur Selbstanzeige zu bringen. Nein, sie will sie vor ihrer neuen Familie bloßstellen: als Rabenmutter.
Hier böte sich die Chance zur Satire auf eine Gesellschaft, die eine vermeintliche Vernachlässigung der Mutterpflicht als schlimmstes Verbrechen einer Frau ansieht. Terrorismus? Ist nichts dagegen! Doch alles verschenkt, auch das Potenzial für gezielte Komik. Reue fühlt Judith nicht, so viel scheint klar. Alice’ Leiden als abgelehntes Kind redet Judith mit erschreckender Gefühlskälte klein. Geschickt versucht sie, sich von der Täter- in die Opferrolle zu manövrieren. Mal stellt sie sich als unbedeutende Mittäterin der RAF dar, als dies nicht funktioniert, als mutige Kämpferin für politische Ideale. Ein spießiges Leben im großen Privatanwesen mit biederem Geburtstagsschmaus war allerdings kaum das Lebensmodell der RAF-Kämpfer. Langweilt sich eine ehemalige Gesetzlose da nicht zu Tode? Offenbar nicht. Judith klammert sich an ihre großbürgerliche Existenz. Warum, das weiß keiner, auch Schneider nicht. Würde der Film von der ersten Szene an flachfallen, wäre das wohl weniger frustrierend als mit anzusehen, wie sich aus vielversprechenden Voraussetzungen etwas bestenfalls mittelmäßiges entwickelt.
Fazit
Die Motive der Figuren, seien sie ideologisch oder privat, will der Film aus unerfindlichen Gründen nicht thematisieren. Dramatisch läuft die Handlung ins Leere, weil sie die Kernfragen ausblendet, inwieweit äußerer Zwang individuelle Schuld relativiert und ob ein Verzeihen möglich ist. Es bleibt das herausragende Spiel Katharina Schüttlers.
Autor: Lida Bach