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Im Januar 1972 nahm Aretha Franklin gemeinsam mit dem Southern California Community Choir und Reverend James Cleveland in der New Temple Missionary Baptist Church in Los Angeles ihr legendäres Album „Amazing Grace“ auf. Das Live-Album, das zum erfolgreichsten Gospel-Album aller Zeiten avancierte, wurde an zwei Tagen eingespielt. Franklin sang Lieder wie „How I Got Over“, „Precious Memories“ und eine elfminütige Interpretation von „Amazing Grace“. Ein Beleg für die nicht nachlassende Strahlkraft der im August 2018 verstorbenen Soul-Ikone.
Kritik
Technische und rechtliche Probleme sind die hauptsächlich zitierten Ursachen dafür, das Sydney Pollacks (Die Dolmetscherin) Konzertfilm über Jahrzehnte unfertig im Archiv verstaubte. Ein weiterer entscheidender Grund war jedoch der Wunsch der Queen of Soul. Aretha Franklin (Whitney) selbst wollte nie, dass der Live-Mitschnitt der Aufnahme ihres titelgebenden Albums aufgeführt wird. Aus welchen Gründen steht nicht fest, nur, dass es nachhaltige gewesen sein müssen. 2011 verklagte sie sogar Alan Elliott, Redakteur von Atlantic Records und verantwortlich für die Realisation des Films, weil er das Material bei dem, was er als Screening für „family & friends to take notes“ umschrieb, abspielte.
Zum Glück für Elliot und die Berlinale Leitung kämpfte die legendäre Sängerin parallel einen anderen Kampf gegen Krebs, den sie auf lange Sicht nicht gewinnen konnte. Fast genau vier Monate nach ihrem Tod folgten die Nachricht von der Präsentation des neu bearbeitete Material außer Konkurrenz auf der Berlinale. Hier kriegt die faszinierende Kostprobe der musikalischen und menschlichen Präsenz Franklins einen undankbaren Programmplatz in der Frühschiene des letzten Wettbewerbstages. Ambivalente Umstände eines ambivalenten Werks. Es weckt zugleich Verlangen nach mehr und den Gedanken, es sollte hier nicht laufen, das Gefühl von Nähe und Unnahbarkeit, Begeisterung und Enttäuschung.
Da scheint es seltsam passen, dass nahezu jedes Wort der Künstlerin während der knapp unter 90 Minuten ein gesungenes ist, und der einzige biografische Einblick im Presseheft erfolgt. Von der wechselhaften Entstehungsgeschichte des Films selbst dringt ebenfalls fast nichts durch. Dafür vibriert der Aufnahmeraum in der New Temple Missionary Baptist Church in L.A. von der grandiosen Stimme und der hypnotischen Ausstrahlung einer Frau auf dem Höhepunkt ihres kreativen Schaffens. Solange sie singt, sind alle Lehrstellen und Konfliktpunkte vergessen. Niemand kann sich der überwältigenden emotionalen Intensität der Performance lösen; der Kinosaal wird zur Kirche des Soul.
Fazit
Der Kinoauftritt des von Sydney Pollack gefilmten Live-Mittschnitts nach über 40 Jahren ist ein fragwürdiger Tribut an eine grandiose Sängerin. Aretha Franklin ist Mittelpunkt und Herz der schlichten Aufnahme, die allein von und dank ihrer Präsenz lebt. Visuell bleibt die restaurierte Fassung dabei so unbefriedigend wie inszenatorisch. Zufälligkeit liegt in Bildern einer nichtsdestotrotz packenden musikalischen Darbietung. Für die Vertreiber scheint die lebendige Schaffenskraft nur Vehikel bizarren posthumen Kommerzes. Dieser tilgt sogar Pollacks Regie-Credit und nennt als Schöpfer Elliott. Der sollte mal einen anderen Franklin-Song hören: „R-E-S-P-E-C-T …“
Autor: Lida Bach