Erwähnungen
On Wheels: Filmfiguren im Rollstuhl
Wer im Rollstuhl sitzt, kommt schwerer ins Kino. Gemeint sind hier nicht die Säle, von denen die meisten wenn überhaupt erst seit kurzer Zeit barrierefrei sind, sondern die Filme. In denen sind Charaktere mit entsprechendem Handicap zwar seit den Anfangszeiten präsent, aber die wenigen Darstellungen kleben fast ausnahmslos an pathetischen Klischees. Der Rollstuhl fungiert häufig als bizarrer dramaturgischer Katalysator: zarte Geschöpfe macht er noch fragiler, diabolische Schurken noch perfider (ergab Sinn in einer Ära, die physische Divergenz an psychische koppelte), tragische Helden noch tragischer. Obwohl es in der dramatischen Darstellung sichtbar voranging, hat sich hinter den Kulissen wenig getan. Verdammt, ich habe einen ganzen extra Tag Recherche drangehängt und wie viele prominente KinoschauspielerInnen mit diesem Handicap ließen sich entdecken? Null (den einzigen in der Liste genannten kannte ich bereits und der war schon vor der Behinderung ein Star; dito Christopher Reeve, der danach nur vereinzelte TV-Auftritte hatte).
Hier sind nun 10 Filmfiguren, die im Guten oder Schlechten und manchmal einer Mischung aus beidem die (Kino)Wahrnehmung von Menschen im Rollstuhl prägten.
Macht endlich die Filmbranche barrierefrei! sagt Lidanoir
X-Men - Der Film
Wäre diese Liste nicht chronologisch ausgerichtet, wäre Dr. Xaver ein Kandidat für den Spitzenplatz. Er ist ein zentraler Charakter, ohne den kein Film geht, megaintelligent, ein ethisches Leitlicht, ein starker Kämpfer, hat trotzdem menschliche Schwächen und dank Patrick Stewart ist er dazu ein echt cooler Typ. Extra Goldpunkte, weil der Namensgeber der X-Men freiwillig statt Normalo-Mensch lieber querschnittsgelähmter Mutant (in der fiktiven Welt doppeltes Diskriminierungspotenzial) ist. Außerdem ist sein Rollstuhl so hochgetunt, dass sogar Deadpool gern darin rumkutschiert.
Gattaca
Weltraumreisen sind in der retro-stylishen Dystopie an der Tagesordnung, aber Treppenlifte kennt dafür keiner. Darum kommt Jude Law als querschnittsgelähmter Sidekick Jerome ewig nicht ins obere Stockwerk seiner null rollstuhlgerechten Wohnung. Vielleicht mal einen echten Rollstuhlfahrer am Set um Beratung zu bitten, war offenbar schon zu viel verlangt. Nachdem er in der ganzen Story als Enabler fungiert hat, wird Jerome schließlich beseitig, um das Happy End zu garantieren. Die Systemkritik des durchaus sehenswerten Sci-Fi-Krimis verschluckt sich an der eigenen Doppelmoral. Ganz übler Spross dieser subtilen Doktrin minderwertigen Lebens ist Avatar, aber da passt es zum faschistoiden Duktus.
Larry Flynt - Die nackte Wahrheit
Best wheelchair ever. Okay, der von Dr. X ist noch 'ne Nummer darüber, aber der Hustler-Verleger hat ein reales Goldfahrgestell. Die Lähmung nach einem Attentat ist in der ebenso provokanten wie witzigen Filmbiografie jedoch weder der zentraler Kampf des Protagonisten, noch durchläuft Flynt die stereotype Depri-Talfahrt mit anschließendem Bergauf. Er bleibt der gleiche exzentrische, draufgängerische und gelegentlich arschige Vorkämpfer für Meinungsfreiheit und Sexhefte, der er immer war. Die exemplarische moralische Läuterung? Gibt's nicht. Gut so, denn die absurde Vorstellung, jeder müsse sich nach einer Versehrung zum Mustermenschen (oder Monster) wandeln, müffelt arg nach göttlicher Strafe.
Mein linker Fuß
Das packende Biopic über Christy Brown konzentriert sich ganz auf die komplexe Persönlichkeit des irischen Autors und Künstlers, den Daniel Day-Lewis eindringlich verkörpert. Weder wird der eigensinnige Hauptcharakter idealisiert, noch mit dem üblichen herablassenden Mitleid betrachtet. Die auf Browns Autobiografie basierende Lebensgeschichte eröffnet dem Publikum eine bis dahin kaum je gezeigte Perspektive, ohne diese auf ein inszenatorisches Gimmick zu reduzieren. Dieser affirmativen Tradition folgen auch Biopics über Stephen Hawking, Frida Kahlo, Mark O'Brien und John Callahan.
Coming Home Sie kehren heim
Das exzellent gespielte Drama traf mit seiner klaren politischen Message den Nerv der Zeit und überwand die angst- und ablehnungsbehaftete Distanz gegenüber Menschen im Rollstuhl. Letzter hindert Jon Voights Vietnam-Veteran nämlich nicht am Sex und für Jane Fonda ist dieser besserer als mit ihrem Offiziersgatten. Die Romanze der Hauptfiguren, die beide psychologischen Ballast im Gepäck haben, befeuert emotionale, intellektuelle und erotische Übereinstimmung. Ein lebendiger Kontrast zu den Statuten von Verpflichtung, Mitleid und kameradschaftlicher Zweisamkeit, unter denen die 50er-Jahre-Prüderie die Beziehung von Menschen mit und ohne Handicap erstickte. Ein zeitloses Plädoyer für Gleichberechtigung und Respekt, das Herz und Hirn berührt. Entschieden weniger überzeugend, aber ebenfalls inspiriert von Ron Kovics Biografie ist Oliver Stones Vietnam-Vet-Drama.
Dr. Seltsam, oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben
Kubricks Kalter-Krieg-Satire fährt in der Darstellung des Titelcharakters eine Reihe hartnäckiger Stereotypen auf und nein, die sind nicht einfach bloß alle Ironie. Dr. Strangelove ist ein Prototyp des irren Schurken, dessen mentale Divergenz durch physische Andersartigkeiten markiert wird. Wenigstens stehen die übrigen Charaktere auch fast ausnahmslos als dämlich, verrückt oder beides da. Trotzdem ist der Alt-Nazi mit Mehrfach-Handicap (das böse Händchen) der Fieseste. Andere aus der Sparte sind Professor Bondi (mit seinem House of Wax), Chaney in West of Zanzibar, Mr. Glass und Dr. Arliss Loveless.
Die Große Liebe meines Lebens
Das starlastige Remake des ebenfalls prominent besetzten Love Affair drückt in Hochglanz auf die Tränendrüse. Playboy-Maler Cary Grant verzehrt sich nach Zufallsbekanntschaft Deborah Kerr, die ihn ebenfalls liebt. So sehr, dass sie nach einem Unfall den Kontakt abbricht, weil sie ihm das Leben mit einer Querschnittsgelähmten nicht zumuten will. Die Liebe siegt natürlich, aber statt zuckersüß ist der Nachgeschmack eher bitter. Die Wahl einer Lebenspartnerin mit Handicap erscheint als ultimatives Opfer im Namen einer "höheren" Liebe und keuscher Moral (unsichtbare "NO SEX"-Schilder blinken, weil in den 50ern keiner je Sex hatte und mit Handicap niemals nie schon gar nicht). Das Ende verweist dazu noch auf die bevorstehende obligatorische Wunderheilung, die das theatralische Ringen zur bizarren Charakterprüfung degradiert. Genaus lernt Marlon Brando in The Men, dass er nicht durch Diskriminierung, Vorurteile oder Bordsteinkanten behindert wird, sondern bloß durch seine eigene negative Einstellung. Im Prinzip eine verdrehte Variation des "Behinderte sind selbst Schuld"-Konzepts.
Young Dr. Kildare
Die einst enorm erfolgreiche Kinoreihe um den jungen, ehrgeizigen, charmanten, adretten, smarten (wie gesagt, enorm erfolgreich ...) Titelcharakter setzte in der wichtigsten Nebenrolle auf Lionel Barrymore. Der Schauspiel-Gigant saß die letzten Jahrzehnte seines Lebens im Rollstuhl, was seiner Karriere keinen Abbruch tat. Nach den Kildare-Filmen passten die MGM-Autoren zahlreiche Rollen seiner Situation an, ohne seine Figuren in Klassikern wie Key Largo und Duel in the Sun darüber zu definieren. Tatsächlich wird das Handicap in einigen der späteren Filme nicht kenntlich, was vor Augen führt: Die Rollenspannbreite für SchauspielerInnen im Rollstuhl beschränkt sich keineswegs auf Figuren mit einem solchen.
The Secret Garden
Das Heidi-Schema nochmal mit ähnlicher Moralkeule: Wohlstand und impliziert degenerierter Adel haben den kleinen Colin in den Rollstuhl verfrachtet. Ein paar Runden Spielen im Grünen richten das wieder und der Junge gewinnt zu Fuß sogar Wettrennen. Permanente Behinderung galt als so unerträglich, dass sie weder den Figuren noch dem Publikum (bzw. den Lesern der bis heute beliebten Buchvorlage) zugemutet werden kann. Die integrative Darstellung der Kindergemeinschaft entpuppt sich als Scharade, die statt Toleranz und Gleichwertigkeit abstruse pädagogische Dogmen von vorvorgestern anpreist.
Heidi
Der Kitschklassiker mit Kindersuperstar Shirley Temple zeigt die Freundschaft der lebhaften Heidi mit der schüchternen Klara. Die sitzt im Rollstuhl, wohin sie Verhätschelung und das böse Stadtleben gebracht haben. Zum Glück kehrt Heidi zurück zu Blumen und Wiesen im Sonnenschein auf der Alm, sonst hätte die urbane Moderne sie garantiert auch gelähmt. Die gute Landluft führt gar dazu, dass Klara beim Bergbesuch Laufen lernt. Wer im Rollstuhl sitzt, muss nur wollen, dann geht das und man selber auch wieder. Integration und Akzeptanz sind überflüssig. Nach diesem Muster schütteln Filmfiguren bis heute ihre Handicaps ab ("Lauf, Forrest, lauf!").
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