Liu Jians autobiografisch inspirierter Animationsfilm ist ein ungewohnt unzynischer Rückblick zur Chinese Southern Academy of Arts Mitte der 90er. Ein Uni-Alltag geprägt von Nirvana hören, Konkurrenten sabotieren, sich verlieben und nebenbei Großes zu erschaffen versuchen. Genie oder Geld? Am Besten alles. Obwohl die Realität für manche eher nach Nichts aussieht. Wer die 90er nicht erlebt hat und zeitgenössische Kunst für überbewertet hält, wird von den Ensemble-Episoden schnell genervt sein. Alle anderen lehnen sich zurück und genießen den mit Retro-Referenzen und Slacker-Sarkasmus vollgepackten Kunstkatalog.

Zwischen schwarzer Einblende und weißer Abblende arrangiert Babatunde Apalowo die Geschichte einer Liebe, die im ultra-queerphoben Staats- und Gesellschaftssystem Nigerias nur versteckt existieren kann. Auch der Hauptcharakter muss erst lernen, seine stigmatisierten Gefühle zu akzeptieren. Eine hintergründige Hommage an eine Stadt und deren sinnliche Vielfalt, voll Liebe zur Fotografie und Hoffnung auf Toleranz.

Der dokumentaristische Stil Ayse Polats mosaikartigem Mystery-Thriller steigert die schleichende Furcht vor dem, was ihr ausgefeilter Dreiakter bewusst außerhalb des Blickfelds lässt. Die Geister der Vergangenheit verfolgen die Kinder der Schuldigen, die in den Augen der nächsten Generation ihr eigenes monströses Spiegelbild sehen. Paranoia und Parapsychologie beschwören einen historischen Horror, den die inszenatorische Zurückhaltung umso effektiver macht.

Ein Sommerurlaub in der baskischen Provinz wird für die kleine Heldin zur ersehnten Chance, eine gesellschaftlich aufgedrückte Identität abzustreifen. Aber wer ist sie? Wer möchte  - und darf - sie sein? Estibaliz Urresola Solaguren nimmt sich in ihrem einfühlsamen Spielfilmdebüt viel Zeit für ihre Figuren, die auf unterschiedliche Weise um Authentizität ringen. Kinderdarstellerin Sofia Otero wurde für ihre grandiose Leistung wohlverdient mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet.

Ein museales Luxusapartment wird für Kunstdieb Nemo zum kreativitätsfördernden Käfig. So konstruiert das Szenario wirkt, so clever und herausfordernd sind die existenzialistischen Fragen, mit denen Vasilis Katsoupis das Publikum seines klaustrophobischen Kunstthrillers beschäftigt. Willem Dafoe balanciert spielerisch einen Part zwischen Tragik und bizarrer Komik, der gerade diejenigen, die Abstraktion und Moderne  grundsätzlich verachten, zum Nachdenken bringen sollte. 

Blutrot leuchtender Himmel, rauchschwarze Wolken und gleißend gelber Sand dominieren die flackernde Farbkulisse Sepideh Farsis magisch-realistischen Animationsfilms. Brutalität und Zärtlichkeit verschmelzen in der während des ersten Golfkrieges angelegten Coming-of-Age-Story, deren lyrische Bilder voll wehmütiger Referenzen an iranische Kunst und Kultur stecken.

Brandon Cronenberg zieht Publikum und Protagonisten in einen maliziösen Malstrom elitärer Amoral, der weit näher an der Realität liegt als die phantastische Prämisse erwarten lässt. In einem abgekapselten Urlaubsressort erlaubt es eine spezielle Gesetzesklausel den schwerreichen Gästen, für ihre kriminellen Ausschweifungen eigens geschaffene Doppelgänger zur Rechenschaft zu ziehen. Während sein Vater den Körper auseinandernimmt, seziert Cronenberg. Jr. die Seele.

Der Ex-Freund, die kleine Halbschwester und der Vater aus Chile platzen in kurzer Reihenfolge in Feñas Leben und erinnern den jungen trans Mann daran, dass eine Veränderung nicht zwangsläufig ein Bruch mit der Vergangenheit sein muss.  Tragikomisch und turbulent verarbeitet Vuk Lungulov-Klotz seine eigenen Erfahrungen zu einem ebenso authentischen wie unterhaltsamen Debüt.

Die Original-Tonaufnahmen des Verhörs von Reality Winner, die 2018 für die Weitergabe vertraulicher Dokumente über russische Einflussnahme auf die US-Wahlen zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, liefern die Dialoge Tina Satters präzisen Protokolls. Ein exzellent gespielter Kammerspiel-Thriller, hochspannend und hochaktuell.  

Frei wie ein Vogel sein:  Für die junge Hauptfigur des ersten tschetschenischsprachigen Berlinale Beitrags scheint dieser Traum von einem selbstbestimmten Leben ebenso unerreichbar wie für ihre weiblichen Verwandten, die ungewollt zu Komplizinnen patriarchalischer Unterdrückung werden.  Das Spielfilm der in Grozny geborenen Regisseurin Malika Musaeva ist visuell, dramatisch und schauspielerisch gleichermaßen überwältigend.