Jeder Mensch, egal wir flüchtig wir ihm begegnen, spielt die Hauptrolle seines eigenen Filmes, weswegen es notwendig sei, auch die Nebencharaktere entsprechend zu behandeln, so verrät es uns Martin McDonagh mit Sicht auf seinen neuen Film The Banshees of Inisherin. Und wagt sich damit seinerseits recht weit aus dem Fenster, handelt es sich bei seiner neuen dunklen Komödie doch um alles andere als ein Ensemble-Stück. Colin Farrell (The Lobster) und Brendan Gleeson (Calvary) nach In Bruge 2008 wieder zu vereinen, das war die Grundidee McDonaghs, seitdem der gebürtige Londoner mit irischen Eltern die beiden in besagtem Kultfilm vor beinah 15 Jahren zusammenbrachte, und McDonagh gibt uns von den ersten Momenten von The Banshees of Inisherin unmissverständlich zu verstehen, dass es die Bande zwischen den von Farrell und Gleeson gespielten Freunden Pádraic und Colm ist, die er sich über die 109 Minuten Laufzeit aufmacht abzuklopfen. Auf der spärlich besiedelten fiktiven Insel Inisherin im Westen Irlands, weit vom Festland entlegen, kommt es einem großen öffentlichen Ereignis gleich, als sich der grüblerische Colm eines Tages von seinem alten (wenngleich jüngeren) Freund Pádraic, durchaus nüchtern, lossagt mit den Worten „I just don’t like you no more“. Pádraic, ein Viehhirte, der ohnehin nur zu Geistesblitzen gelangt, wenn er mit den anderen Inselbewohner*innen im Public House, dem örtlichen Pub, einen über den Durst trinkt, versteht die Welt nicht mehr – ebenso wenig wie die Menschen um ihn herum. Seine Schwester Siobhan (Kerry Condon, Spider-Man: Homecoming) etwa, die Colm schnurstracks aufsucht und dessen Begründung für seine Abkehr von Pádraic – dieser sei stumpfsinnig – sie mit dem Einwand pariert, er sei schon immer stumpfsinnig gewesen. Colm, ein Mann beschränkten Talents auf der Violine, der allmählich seinem Lebensabend entgegensieht, ist indes entschieden – entschieden, etwas zu hinterlassen, das überdauert, denn all die Nettigkeit, die seinen Freund Pádraic auszeichne, werde ihm nicht dazu verhelfen, dass sich seiner schon in Jahrzehnten noch erinnert würde. Die Dinge, die überdauerten, das sei die Kunst: die Malerei, die Poesie, die Musik.
Der Pragmatismus, in dem „Colm-Sunny Larry“ dies vorträgt, mag in der ersten Instanz absurd anmuten, ganz so, als habe das zunehmende Alter Colm gesellschaftliche Gepflogenheiten vergessen machen. Tatsächlich aber expliziert McDonagh hier einen Vorgang, der sich unserer Tage für gewöhnlich nicht mehr manifestiert. Siedelte McDonagh seine Geschichte nicht auf einer entlegenen westirischen Insel im Jahr 1923 zur Zeit des Bürgerkriegs an, sondern stattdessen in der Gegenwart, so würde sich Colm womöglich damit begnügen, seinen Freund zu ghosten. Ein weites Spektrum an Möglichkeiten stünde ihm dahingehend offen: das langsame Verglimmen persönlicher Treffen, mit zunehmend größer werdenden Abständen der Kontaktaufnahme. Das Blockieren auf sämtlichen digitalen Kanälen. Ein Wechsel der Telefonnummer, ein Umzug vielleicht. Doch ebenso wie ein Umzug, der für niemanden außer Pádraics kleiner Schwester Siobhan, der vermutlich hellsichtigsten Bewohnerin Inisherins, in Frage kommt, lässt sich für Colm auch ein subtileres Ablassen vom alten Weg- und Trinkgefährten nicht realisieren. Wenn uns diese Abkehr von der Freundschaft also absurd erscheint, dann nur, weil das Knüpfen wie das Kündigen einer Freundschaft fast immer von einer gewissen Absurdität zeugt. Ebenso wie wir uns nur zu selten dessen gewahr werden, was uns zu anderen hinzieht, entzieht es sich zumeist auch unserer Kenntnis, was uns an anderen abstößt.
Pádraic verzweifelt zunehmend an dieser Arbitrarität der Empfindungen, der auch die anderen Gemeindemitglieder auf den Grund zu gehen suchen. Der Pfarrer etwa, der Colm, auf dem Beichtstuhl sitzend, danach fragt, warum er mit Pádraic gebrochen habe. Ob das eine Sünde sei, will Colm wissen. Das vielleicht nicht, so der Pfarrer. Aber nett sei es sicher auch nicht. Doch wie oft sich Colm auch vor den anderen Mitgliedern der Gemeinde rechtfertigen muss, die ihm den Bruch der Freundschaft unverblümt übel nehmen – sei es der Schankwirt oder die über alle Diskretion erhabene Postbeamtin oder Dominik, der Sohn des Polizisten und einzige Inselbewohner, der Pádraic den Platz im inoffiziellen Ranking der größten Toren der Insel noch den Rang abläuft – es ändert nichts an seinem Entschluss, ja bestärkt ihn, wenn überhaupt, noch darin.
Wer nur ein wenig mit McDonaghs Werk vertraut ist, den wird es wenig Wunder nehmen, dass der Londoner aus dieser Prämisse eine Fülle an geistreichen Dialogen entwickelt, die sich, obgleich zugespitzt, gelebt anfühlen. Die eingangs paraphrasierte Bemerkung McDonaghs ist nicht einfach der Versuch, seine Nebenfiguren in ihrer Rezeption aufzuwerten, sie deutet vielmehr die Bedingung dafür an, dass seine auf dem Papier so schlicht daherkommende Geschichte so mühelos plastisch wird. Binnen kürzester Zeit verlieren wir jeden Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Insel Inisherin und glauben ihre Bewohner*innen dort schon seit Menschengedenken verwurzelt, nicht zuletzt, da McDonaghs eingangs paraphrasierte Parole zum Tragen kommt, die Nebenfiguren mit Leben auszufüllen. Durch Repetition wird hier nicht nur der ereignislose Inselalltag dargestellt, sie schlägt sich auch in Sprachmustern des irisch-ruralen Regiolekts nieder, die umso mehr beeindrucken, wenn man bedenkt, dass McDonagh diese Mundart selbst nicht spricht.
Die Geschichte erzählt sich indessen mit solch großer Einsicht, dass man unweigerlich vergisst, dass diese Geschichte weniger beobachtet als erfunden ist. Wenn der allseits beliebte und immerfreundliche Tölpel Pádraic allmählich an der Beliebigkeit der Welt zerbricht, geschieht dies auf mitleiderregende Weise, doch anders als Regiekollege Aronofsky mit The Whale ist McDonagh sich bewusst, dass sich Mitleid nur bis zu einem bestimmten Punkt dazu eignet, das Publikum zu fesseln. Bald schon tritt eine Düsternis in Pádraic zu Vorschein, die nicht nur die Leute um ihn herum überrascht, sondern auch ihn selbst, eine Düsternis, die im ersten Moment nervöses Gelächter hervorrufen mag, dieses bei näherer Betrachtung allerdings zum Stocken bringt. Begleitet von Brahms und mit dem irischen Bürgerkrieg im Hintergrund – so weit im Hintergrund, dass er für die Inselbewohner*innen kaum mehr ist als das gelegentliche Aufflackern eines Feuerwerks, für dessen Beweggründe man sich den Luxus erlauben kann, sich nicht zu interessieren – wird durchaus ersichtlich, warum McDonagh insbesondere die Western John Fords oder Sergio Leone anführt, die er neben Charles Laughtons The Night of the Hunter als Inspiration betrachtet. Wieder und wieder grast die Kamera die grünen Hügel der Küstengemeinde auf und ab, weg vom Haus Siobhans und Pádraics, die sich seit dem Tod ihrer Eltern ein kleines Haus mit der von Pádraic innig geliebten Eselin Jenny teile, hin zum Public Haus zu einem, zwei, drei Pints, hin zu Colms Haus, wo dessen Hund die Besucher bereits erwartet, und schließlich wieder zurück. Die Dialogduelle kommen hier als Stand-offs daher, ohne dass jemand daran dächte, sich zu bewaffnen. Denn das zentrale Problem in The Banshees of Inisherin liegt letztlich darin, dass hier niemand irgendwen zu verletzen beabsichtigt, doch auch niemand umhinkommt, es nicht zu tun.