Inhalt
Auf dem gleichnamigen Roman von Stephen King basierender US-amerikanischer Thriller aus dem Jahr 1995 mit Kathy Bates und Jennifer Leigh in den Hauptrollen. Dolores steht unter Verdacht ihre Arbeitgeberin ermordet zu haben. Als ihre Tochter Selina von den Vorwürfen erfährt, kehrt sie in ihren verhassten Heimatort zurück, um ihrer Mutter beizustehen, wo unangenehme Kindheitserinnerungen aufkommen.
Kritik
„Sometimes being a bitch is all a woman hast to hold onto“
Das der Name Stephen King primär mit Horror in Verbindung gebracht wird ist selbstverständlich, aber Horror kann eben auch weit mehr beinhalten als paranormale Phänome, gruselige Schauerwesen und blutige Gewaltorgien. Manchmal ist der wahre Horror ganz natürlich und greifbar; in einer Ungerechtigkeit und Hilflosigkeit psychologisch begründet. Somit ließe sich auch die Leinwandadaption seines 1992 erschienenen Romans Dolores Claiborne (in Deutschland ebenso wie der Film schlicht mit Dolores betitelt) im weitesten Sinne in das gewohnte Terrain des Autors hineininterpretieren. Ein möglicher Ansatz, wenn man Stephen King krampfhaft nicht zugestehen wollen würde, dass die meisten seiner Geschichten eben nicht nur triviale Groschenliteratur darstellen. Sicher nicht alle, aber doch eine nicht geringe Anzahl seiner Erzählungen verwenden den vordergründigen Horror als Metapher oder Verarbeitungsprozess ganz realer, zwischenmenschlicher Konflikte. Bei diesem Werk musste der Meister des Schreckens nicht auf diese Methodik zurückgreifen und der oftmals zu wenig lobend erwähnte Regisseur Taylor Hackford (Blood In Blood Out – Verschworen auf Leben und Tod) nutzt diese Steilvorlage für einen Film, der trotz eines allgemein guten Feedbacks ebenso viel zu geringfügig wertgeschätzt wurde und immer noch wird.
Nur ein Jahr zuvor floppte Die Verurteilten gnadenlos an den Kinokassen, wurde dennoch für etliche Oscars nominiert (ohne einen davon zu gewinnen) und mauserte sich in den Folgejahren zum Publikumsliebling und Spitzenreiter auf IMDb. Eigentlich ein gutes Omen für eine weitere, hochveranlagte King-Adaption abseits der an ihn gesteckten Erwartungshaltungen, aber vielleicht war er dafür doch etwas zu früh dran. Noch galt Die Verurteilten nicht als das verkannte Meisterwerk und Dolores lief weitestgehend ebenso unter dem Radar des durchschnittlichen Publikums. Dabei ist dieses Werk mindestens auf Augenhöhe mit dem von Frank Daranbont, was noch eine solidarische Prognose darstellt. Vermutlich (um nicht zu sagen sehr sicher) ist es sogar der klar bessere Film, dem nur eine viel kleinere Lobby den Rücken stärkt. Was man Die Verurteilten definitiv anrechnen muss, ist das er aus einer wirklich relativ banalen Kurzgeschichte ein dafür nie zu vermutendes Epos kreierte, das praktisch in jedem Bereich mehr abliefert als die Basis hergab und exakt die richtigen Töne zum perfekten Zeitpunkt spielt. Dolores hingegen gelingt ein noch viel größeres Kunststück. Eine wesentlich komplexere und reichhaltige Vorlage nicht nur angemessen zu transferieren, sondern sie in dieser Form sogar noch besser und effektiver zu gestalten. Somit eine praktisch perfekte Adaption zu erschaffen, die nicht nur ein „notwendiges Übel“, sondern tatsächlich einen künstlerisch bedeutenden und wichtigen Mehrwert darstellt.
Wenn man Dolores als eine Hollywood-, eventuell sogar Popcorn-Version eines Ingmar Bergman-Films bezeichnen würde (was hiermit geschieht), klingt das im ersten Moment nicht nur paradox, sondern beinah furchtbar und abwertend. Genau das soll es aber nicht sein. In vielerlei Hinsicht ist der Film sehr nahe bei den emotional-analytischen Seelenstriptease des schwedischen Meisterregisseurs, nur eben auf eine konventionellere, massentauglich zugänglichere Art und Weise. Ummantelt in das typische Setting eines Stephen King: Einem kleinen Flecken im Nirgendwo von New England, diesmal die Insel Little Tall Island. Wo jeder jeden kennt und somit auch die Geister der Vergangenheit niemals Ruhe finden. Dolores (Kathy Bates, einst Oscar-Gewinnerin für die King-Adaption Misery) und ihre Tochter Selena (Jennifer Jason Leigh, The Hateful 8) sind zwei gebrochene Frauen, die durch äußere Umstände dazu gezwungen werden, in den Trümmern ihrer traumatischen Vergangenheit herumwühlen zu müssen. Dabei reißen sie alte Wunden auf, kommen sich über den Umweg dieses schmerzhaften Prozess wieder so nah wie seit dem Abend der großen Finsternis nicht mehr.
Regisseur Taylor Hackford und Drehbuchautor-Autor Tony Gilroy (Michael Clayton) liefern beide meisterhafte Leistungen ab. Gilroy’s Skript ist nicht nur formidable erzählt, sondern konzentriert sich akribisch auf das komplizierte Verhältnis seiner Figuren. Das fesselnde Erzählen einer Geschichte und das empathische Schildern einer sich aus Scherben behutsam wieder zusammensetzenden Mutter-Tochter-Beziehung gelingt in perfekter Kombination und Harmonie. Hackford’s auf dem Papier vielleicht etwas simple klingender Taschenspielertrick erweist sich zudem als inszenatorisch äußerts elegant arrangiert: Die grauen, tristen Szenen in der Gegenwart – insbesondere zwischen Mutter und Tochter – visualisieren ihr frostiges Verhältnis, während die Rückblenden in zunächst strahlenden Tönen präsentiert werden. Mehr und mehr gleichen sich diese beiden Erzählperspektiven optisch an. Nicht abrupt und eine vollständige Symbiose wird nie erreicht, aber gerade in diesen feinen Nuancen spiegelt Hackford auch wider, das eine lückenlose Wiedergutmachung niemals auch nur in Aussicht steht. Was geschehen ist, ist geschehen. Es geht um das Verstehen, um Erkenntnis, um das Vergeben und das Loslassen von den Dämonen, die einen bis zum heutigen Tage verfolgt haben. Dolores ist kein plump gestrickter Tränenzieher, sondern eine (erstaunlich) fundierte Auseinandersetzung mit zwischenmenschlichen Aufarbeitungsprozessen, bei der eine hervorragend konzipierte Geschichte und atmosphärische Geschlossenheit praktisch nur die Sahne auf der Torte sind. Darstellerisch grüßt man ohnehin von ganz oben: Kathy Bates und Jennifer Jason Leigh sind erschütternd brillant, da fehlen einem die Worte. Wenn dann auch noch gerne gebuchte, in der Regel aber eher unauffällige Nebendarsteller wie Judy Parfitt (Das Mädchen mit einem Perlenohring) oder David Strathairn (Lincoln) auch noch die Leistungen ihres Lebens abrufen, dann bleibt kaum noch Spielraum für ein anderes Urteil. Umwerfend.
Fazit
Ein fantastischer Film, getragen von zwei überragenden Hauptdarstellerinnen. „Dolores“ ist so ein Werk, das Gefahr läuft an gewissen Punkten zu übertreiben (sei es die Performance der Darsteller, die emotionale Schwere oder vom technischen Stil), aber in allen Belangen die perfekte Nuance trifft. Viel besser können Unterhaltung und Anspruch sowohl narrativ wie inszenatorisch nicht harmonieren. Perfektes Erzählkino mit Herz, Hirn und Seele.
Autor: Jacko Kunze