Pazifismus funktioniert so lange gut, bis der Krieg die eigene Familie trifft. Bis die eigene Heimat verbrannt und zerstört wird. Bis zu diesem Zeitpunkt kann man friedlich und alternativ in einem Erdloch wohnen und sich von der Welt abschotten, so wie die Hauptfigur Mykola (Roman Semysal, Cherkasy) aus Sniper. The White Raven. Doch wenn die schonungslose Realität einen mit voller Wucht trifft, dann ist es unmöglich, die Augen vor der Zerstörung zu verschließen und einfach so zu tun, als ob gar nichts passiert wäre, als wäre einem nicht alles genommen worden. Sniper. The White Raven nimmt sich die Zeit, die Motivation von Mykola zu offenbaren. Er ist eben kein geborener Krieger, der nur darauf gewartet hat, endlich auf die Russen schießen zu dürfen. Mykola ist eine Figur, die eine 180 Grad-Wandelung vollzieht. Er ist ein kluger Mann, der Physik unterrichtet, sich um die Umwelt sorgt und seine Frau (Maryna Koshkina, Last Resistance - Im russischen Kreuzfeuer) über alles liebt. Bis sie ihm durch die Hand russischer Angreifer genommen wird. Ab diesem Zeitpunkt beginnt die Veränderung seines Wesens und er wird zu dem, was das Leben aus ihm gemacht hat: zu einem Scharfschützen.
Sniper. The White Raven wurde von wahren Ereignissen inspiriert, wobei der Drehbuchautor Mykola Voronin der Hauptfigur Mykola Voronenko beinahe seinen echten Namen lieh. Außerdem ließ er seine eigenen Erfahrungen in das Drehbuch miteinfließen. Er selbst war Mathe- und Physiklehrer, bevor er sich freiwillig für die Armee gemeldet hatte. Manchen Menschen fällt es schwer zu glauben, dass man sich freiwillig für die Armee melden könnte. Vor allem, wenn man ein gebildeter Mensch ist, betrachten es viele unter ihrer Würde, den Job eines Soldaten zu verrichten oder sie glauben immer noch an die heile Welt, in der man alle Konflikte friedlich und völlig ungefährlich mit guten Argumenten lösen kann. Doch im Ernstfall möchten trotzdem alle von jemandem beschützt werden, den sie in Friedenszeiten aber verteufeln, weil er lernt, wie man die Feinde am effektivsten ausschalten kann.
Der Beruf eines Schafschützen ist gar nicht so leicht, wie es in manchen Filmen dargestellt wird und Sniper. The White Raven zeigt nicht nur typische Szenen, in denen ein angehender Soldat trainiert, sondern auch die Szenen, in denen die Scharfschützen die richtige Entfernung zum Gegner berechnen müssen und stundenlang regungslos auf ihren Posten ausharren. Es geht eben nicht darum, wie wild in der Gegend rumzuschießen, sondern darum nachzudenken und zu warten, denn mit Geduld und Intelligenz besiegt man seine Gegner. Sniper. The White Raven setzt nicht auf die großen Show-Momente, sondern auf Authentizität. Die Erfahrungen echter ukrainischer Scharfschützen wurden in dem Film verarbeitet. Während man in vielen Kriegsfilmen nur die körperlichen Trainingsszenen präsentiert und kurz darauf die ganz großen Schlachten wirkungsvoll in Szene setzt, geht es bei Sniper. The White Raven ruhiger zu. Es wird auch nicht jeder Moment emotional ausgeschlachtet, bis kein Auge trocken bleibt. Krieg ist Krieg und auch wenn die Kameraden getötet werden, hat man im Regelfall keine Zeit sie zu betrauern oder sich selbst Vorwürfe zu machen, weil man mal wieder jemanden erschossen hat. Nüchtern und gefasst und ohne jegliche Kriegsromantik zeigt Sniper. The White Raven, was für viele ukrainische Männer und Frauen mittlerweile zu ihrem Alltag geworden ist: Trainieren, warten, schießen. Für die meisten dürfte es vielleicht überraschend sein, aber in einigen Regionen der Ukraine herrscht bereits seit dem Jahre 2014 Krieg und Sniper. The White Raven problematisiert nicht die aktuellen Ereignisse aus dem Jahre 2022, sondern den Angriff der Russen auf den Donbas, der bereits im Jahre 2014 stattgefunden hatte.
Am Rande befasst sich der Film auch mit der Thematik der ukrainischen Russland-Sympathisanten, die sich für die Seite der Angreifer entscheiden und ihre eigene Heimat und ihre Landsleute angreifen. Man hält sich allerdings nicht weiter damit auf und quittiert ein solches Verhalten nur mit den Worten: „Er hat sich entschieden.“ In Wahrheit ist diese Thematik viel komplexer als im Film dargestellt und für Außenstehende nur schwer nachvollziehbar. Im Laufe der Geschichte wurde der Ukraine immer wieder ihre Unabhängigkeit verwehrt und das Land musste sie sich immer wieder neu erkämpfen und gerade in den Zeiten der Sowjetunion sprach die Mehrzahl der Ukrainer in ihrem eigenen Land Russisch, während Ukrainisch den faden Beigeschmack einer Bauernsprache hatte. Viele Menschen sind zwar in der Ukraine aufgewachsen, kannten aber ihre eigene Sprache nicht und wuchsen mit Russisch als Muttersprache auf, was sie letztendlich auch in ihrem politischen Denken beeinflusst hatte, wobei sie die Einführung der ukrainischen Sprache als Amtssprache beinahe als Bedrohung für ihre eigene Kultur ansahen. Im Film wird genau das problematisiert, als die russischen Angreifer Mykola und seine Frau dazu zwingen wollen, Russisch zu sprechen. Im Übrigen sind alle Figuren, die im Film auf Russisch reden, böse. Auch diejenigen, die kurzzeitig auf Ukrainisch mit russischem Akzent sprechen werden als unsympathisch dargestellt, was jedoch verständlich ist. Trotzdem ist es ein wenig schade, dass sich in dem Film keine einzige Figur findet, die zwar Russisch spricht, aber dennoch für ihre ukrainische Heimat kämpft. Insoweit sind die Rollen für die Guten und Bösen ziemlich klar verteilt. Es gibt eben nur schwarz oder weiß und keine grauen Töne dazwischen.
Trotzdem ist Sniper. The White Raven ein gelungener Film über Patriotismus und Liebe zu seiner Familie. Scharfschützen werden als Helden dargestellt, die ihre Leben aufs Spiel setzen, um ihr Land von Angreifern zu befreien und ihre Familie zu beschützen. Es ist kein „Hau-Drauf“ oder besser gesagt „Schieß-Drauf“ Film, sondern ein Film, der die mühsame Arbeit der Scharfschützen ehrt und sich dankbar für ihren unermüdlichen Einsatz für den Frieden zeigt. Wer Patriotismus als etwas Böses verteufelt, der hat das Glück in einem friedlichen Land zu leben und musste sich noch nie die Frage stellen, was passiert, wenn die eigene Familie angegriffen wird. Wer diese Frage für sich schon einmal beantworten musste, der weiß, dass es eigentlich keine andere Wahl gibt, als die Menschen, die man liebt, um jeden Preis zu beschützen und die Angreifer von seinem Land fernzuhalten.