Inhalt
Hätte Rosemaries Baby eine ältere Schwester, dann wäre es Esther! Hinter der Fassade des hübschen, intelligenten Waisenkindes verbirgt sich das Böse - kompromisslos, berechnend und kaltblütig. Nach einer Fehlgeburt entschließen sich Kate und John ihre Familie durch die Adoption des Mädchens zu komplettieren. Doch die frühreife Esther hat ihre ganz eigene Vorstellung vom perfekten Familienleben und wer sich ihr entgegenstellt, muss um sein Leben fürchten.
Kritik
Verschwitzt tritt sie heran an die Rezeption des Krankenhauses, vor sich schiebt sie einen kugelrunden Babybauch: Kate (Vera Farmiga) ist kurz davor, ihr drittes Kind zu gebären. Als sie gerade in dem Rollstuhl Platz genommen hat, der sie auf die Entbindungsstation bringen soll, zeichnet sich auf dem Fußboden eine Blutspur ab, die ihren Ursprung zwischen den Beinen der Hochschwangeren findet. Danach ein Schnitt, alles nur ein Traum, durchatmen. Na ja, nicht ganz, Kate hat ihr Kind tatsächlich verloren, trug es ganze 16 Tage tot mit sich herum, hat sich auf Phantomkindsbewegungen verlassen, der Verlust nagt verständlicherweise an ihrem labilen Nervenkostüm. Die Exposition von „Orphan – Das Waisenkind“ erscheint da ganz nach den Regularien des Genres konstruiert, bedient Altbewährtes, ist dennoch effektiv in seiner Darbietung, weil er Gefühle perspektiviert, die den Zuschauer ob der dramatischen Tragweite schaudern lassen. Diese drei Minuten stehen symptomatisch für den gesamten Film: Wer Neues erwartet, der wird bei Jaume Collet-Serradumm aus der Wäsche schauen.
Ja, das Drehbuch von Alex Maceund David Leslie Johnson bleibt dem Zuschauer einer gewissen Innovation doch schuldig, darum geht es in „Orphan – Das Waisenkind“ auch gar nicht. Viel signifikanter ist die Art und Weise, wie es dem Film gelingt, altbewährte Statuten des Psycho-Horrors zu bedienen und aufzubereiten, ohne den muffigen Wind obligatorischer Konfektionsware durch das matte Gerippe pfeifen zu lassen. Durch den oben erwähnten Schicksalsschlag ist Kate erneut in ein Loch gefallen, welches sich eigentlich geschlossen haben sollte, nachdem sie ihrer Alkoholsucht abgeschworen hat, die einst dazu führte, dass ihre beinahe taube Tochter Max (Aryana Engineer) fast im See vor dem Haus ertrunken wäre. Mit ihrem Mann John (Peter Sarsgaard) entscheidet sie sich dazu, die Liebe, die sie eigentlich Jessica, dem verstorbenen Kind, geben wollte, auf ein Adoptivkind zu kanalisieren. Und nach einem Besuch im Waisenkind wird man auch in Esther (Isabelle Fuhrman) fündig, einer 9-Jährigen mit russischen Wurzeln. „Orphan – Das Waisenkind“ etabliert diese Esther als reserviertes, aber zweifelsohne hochintelligentes Kind.
Ihre kognitiven Fähigkeiten sind weit über denen angesiedelt, als noch bei anderen Kindern ihrer Altersklasse. Als genreaffiner Zeitgenosse ist natürlich schnell klar, dass – so wie es auch auf dem Poster des Films deklariert ist – irgendetwas mit Esther nicht so ganz stimmt. „Orphan – Das Waisenkind“ ist es aber vorerst daran gelegen, ein plastisches Familienklima aufzubauen, in dem sich auch abzeichnet, dass sich Kate langsam aus der Schutzblase traut, die sie durch ihre Trauer aufgebaut hat und sexuellen Interaktionen nicht länger den Riegel vorschiebt. Dass das Drehbuch mit altertümlichen Motiven des Horror-Films hantiert, ist da weit weniger verwerflich, als man es zu Anfang vermuten möchte, betreibt der Film doch nicht nur bloßen Plagiieren namhafter Vorbilder, er zollt ihnen viel Respekt und versucht, all die Ingredienzien für sich zu gewinnen, um sie in einem stimmungsvollen Ganzen recyceln zu können. Da wird das familiäre Gefüge, errichtet auf standhaften Fundamenten des unabdinglichen Zusammenhalts, von innen heraus zerstört.
Esther, dessen analytisch-kalter Blick sich oftmals bis in Mark bohrt, spielt die Mitglieder der Familie Coleman gnadenlos gegeneinander aus, nutzt emotionale Schwachstellen und veranschaulicht durch ihr niederträchtiges Verhalten, dass diese Familie von Anfang nicht jeder Erschütterung gewachsen war. Der Skopus der Inszenierung dringt dabei bis tief in eine überraschende Konsequenz vor, die gerade dadurch effizient erscheint, weil die Charakterzeichnung nicht abgehoben, sondern greifbar ausgefallen ist, das sind keine Spießer und keine White-Trash-Knalltüten. So wie Esther die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung manipuliert, so tut es auch die Narration von „Orphan – Das Waisenkind“, die eine altbekannte Methodik zu imitieren scheint, die inhärenten Klischees des Genres nicht abgeneigt ist, aber auch keine Ausflüchte sucht, keinen sicheren, diplomatischen Weg. Dramaturgisch spitzt sich die Lage selbstverständlich immer weiter zu, der große Knall bahnt sich an, lädt sich sequentiell auf, um dem Zuschauer schlussendlich eine neue Frage zu offerieren:
Der Hort der Zuflucht ist einem Limbus des Terrors gewichen, aber kann es nach all dem Schrecken überhaupt noch einen Neuanfang geben?
Fazit
Äußerst gelungener Psycho-Horror, der mit den dramaturgischen Mechanismen des Genres nach Belieben jongliert, es sich durch seine sichere Hand allerdings auch erlauben kann. „Orphan – Das Waisenkind“ will sich nicht mit Innovationen brüsten, stattdessen bereit er Altbekanntes mehr als gelungen auf und veranschaulicht ein weiteres Mal, warum Kinder als Schrecken aus zwei Beinen so wunderbar taugen.
Autor: Pascal Reis