Inhalt
Nach drei Jahren wird Ugo aus dem Gefängnis entlassen und sofort von den Handlangern seines ehemaligen Auftraggebers - des „Amerikaners“ - in Empfang genommen. Dieser glaubt, er hätte ihn damals um 300.000 $ beschissen. Ugo bestreitet alles, aber niemand will ihm glauben. Auch nicht die Polizei, die nur darauf wartet, ihn wieder einzubuchten. Oder ihn dazu zwingen will, den Amerikaner ans Messer zu liefern. Ugo steht zwischen den Fronten, findet wieder Fuß in der Organisation, aber steht unter ständiger Beobachtung. Und dann kommt es wieder zu einem „Zwischenfall“…
Kritik
Eine der frühen Speerspitzen des 1971 noch recht jungen Sub-Genre des Poliziottesco, welches sich fast parallel zu dem des Giallo entwickelte. Zu seiner Zeit vornehmlich in dessen Geburtsland Italien ähnlich populär und lukrativ, jedoch mehr oder weniger genauso kurzlebig. Werden ihm bis heute auch immer noch vereinzelt echte Meisterwerke der gesellschafts-politischen Thrillers wie Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger von Elio Petri oder Der Clan, der seine Feinde lebendig einmauert von Damiano Damiani zugeordnet, entspricht Milano Kaliber 9 von Fernando Di Leo (Der Mafiaboss – Sie töten wie Schakale) eindeutig dem, was den Poliziottesco im klassischen Sinne ausmachte. Rüde, in Detailfragen sicherlich oftmals etwas grobschlächtige Polizeifilme, die nicht zwingend auf einen höheren, inhaltlichen Anspruch ausgelegt waren, stattdessen durch ihren radikalen (damit aber mitunter auch durchaus kritischen) Tonfall und drastische Schauwerte überzeugen wollten. Hatte Di Leo direkt zuvor mit dem schon arg trashig angehauchten Giallo Das Schloss der blauen Vögel nur durch einen sportlich ausgelegten Fun-Faktor halbwegs solide unterhalten können, haut er hier direkt von Beginn an mächtig auf die Kacke.
Heidewitzka, ein Einstieg nach Maß. Mit der skrupellosen, sackbrutalen und enorm impulsiven Sequenzen VOR den Opening Credits macht Di Leo mal gleich klar, wo hier der Hase lang läuft. Natürlich geht es nicht die ganze Zeit so weiter, aber die Grundstimmung wird schon mal ziemlich stramm einzementiert. Allein das wurde wegweisend für die kommenden Jahre des Genres. Praktisch die Marschrute, an der sich viele Folgewerke orientierten. Es mutiert nicht zum blutrünstigen Schlachtfest, aber wann immer der Gewalt die Bühne gehört, werden da kaum Kompromisse gemacht. Das ist jedoch nur ein Teilaspekt, der den Film markant, aber qualitativ nicht besonders hochwertig macht. Vielmehr ist es die Kreuzung aus heißsporniger, italienischer Rohkost und teils an das französische Gangsterkino erinnernden, unterkühlten Tristes, die Milano Kaliber 9 so interessant macht. Ambivalenz schwebt über allem, denn bis zum Schluss ist nie klar, wem sich trauen lässt und ob es überhaupt auch nur eine einzige, wirkliche ehrliche Figur gibt.
Ob der von Gastone Moschin (Der Pate 2) mit ausdrucksstarker Leinwandpräsenz verkörperte Anti-Held ein tragischer, vom Schicksal und falschen Verdächtigungen übel mitgespielter Pechvogel oder doch ein manipulativer, eiskalt berechnender Betrüger oder gar Verräter ist, bleibt bis zum Ende offen. Beharrlich lässt sich Milano Kaliber 9 dabei nie zu tief in die Karten gucken, alles bleibt möglich und in jede Richtung schlüssig. Im weiteren Verlauf scheint das sogar auf alle anderen Charaktere zuzutreffen, denn hingegen seines rotzigen Auftretens schlummert hier ein durchwegs spannende, undurchsichtige Ganovengeschichte mit cleveren Entwicklungen und emotional sogar leichtem Tiefgang. Nicht so deep, dass sich von richtig edler Ware sprechen ließe, in seinem brachialen Mikrokosmos dennoch eine leuchtende Ausnahmeerscheinung. Ein unpassender Wehrmutstropfen ist ausgerechnet Vollblut-Mime und Charisma-Bolzen Mario Adorf (Der Tod trägt schwarzes Leder), der Temperament und Spielfreude nicht unter Kontrolle hat und so wild drauflos chargiert, dass Nicolas Cage dabei vor Neid erblassen würde. Kann in einem anderen Kontext richtig Spaß machen und sogar ein echter Mehrwert, zum Beispiel in so vielen eher ranzigen Poliziotteschi, die nur durch ihren Radau-Faktor Laune machen. In diesem deutlichen besseren Beitrag mit Luft nach oben muss das so nun wirklich nicht sein.
Fazit
Nicht unbedingt elegant, aber handwerklich stark und mit erstaunlichen Qualitäten in narrativen Bereich setzt Fernando Di Leo mit „Milano Kaliber 9“ ein echtes Ausrufezeichen. Dynamisches, knallhartes und dennoch nicht unüberlegtes Genre-Kino aus Italien, das fraglos zu den besten Beiträgen des Poliziottesco gezählt werden darf. Auch wenn mit Mario Adorf zu sehr die südländischen Gäule im Blut durchgehen.
Autor: Jacko Kunze