Wie abschreckend muss es heutzutage wohl erscheinen, einen Film von 240-minütiger Lauflänge über sich ergehen zu lassen? Natürlich, die Extended Versionen der „Der Herr der Ringe“-Trilogie missten ebenfalls üppige 4 Stunden, allerdings waren die Abenteuer in von Frodo und seinen Gefährten Mittelerde immerhin an kontemporären Sehgewohnheiten angepasst. Nun stelle man sich einmal vor, man würde dem Gros des heutigen Publikum einen Film vor die Nase setzen, von rigoroser Überlänge eingedeckt und ganz streng auf einen Hauptcharakter fokussiert, ohne schnaubende Hochleistungscomputer, ohne grelles Tamtam: Die Kinosäle würden wohl – bis eine Handvoll Versprengter - wie leergefegt daherkommen. Und wenn es sich dann womöglich noch um ein wiederaufgeführtes Werk aus seligeren Zeiten handelt, etwa den 1960er oder 1970er Jahren, dann darf man sich auf ein alteingesessenes Totschlagargument vorbereiten: „Alte Schinken guck' ich nicht!“. Eine gar bedauerliche Einstellung, doch ein Hoch auf das heimische Lichtspielhaus, welches dieser Tage nun auch in den Genuss von „Ludwig II“ auf Blu-ray kommen darf.
Luchino Visconti, einer der renommierten Neorealisten, war schon immer dafür berühmt und berüchtigt, ausladende Sittengemälde in Szene zu meißeln: Ob „Rocco und seiner Brüder“ oder „Der Leopard“. „Ludwig II“ stellt hinsichtlich des epischen Ausmaßes seiner Erzählung selbstverständlich auch keine Ausnahme dar, wie soll ein Film über den von Skandalen umflorten König von Bayern schon aussehen, wenn man seinen glanzlosen Niedergang in einem saloppen Schwank von 90 Minuten abhandeln würde. Man muss allerdings einen Faible für das Elegische besitzen, um „Ludwig II“ mit der ihm gebührenden Fairness zu begegnen, ansonsten dürfte man sich angesichts der doch sehr entschleunigten Taktung schnell auf verlorenem Posten vorfinden, um nebenbei die quadratischen Kacheln an der Zimmerdecke zu zählen. Inbrünstige Cineasten würden ob dieser Respektlosigkeit zu Recht auf 'Kunstverachtung' plädieren, allerdings stellt sich auch in Bezug auf „Ludwig II“ heutzutage die Frage, ob dieses zum Klassiker avancierte Mammutwerk all der internationalen Schmeicheleien standhalten kann? Die Antwort darauf ist simpel: JA!
Die Affinität zum überbordenden Prunk lebt Luchino Visconti in „Ludwig II“ erneut in vollen Zügen aus, während, beinahe konterkarierend zur einnehmenden Schwülstigkeit des gesamtes Werkes, die ersten Worte des Films, gesprochen von Gerd Fröbe als Pater Hoffmann, Folgendes besagen: „Ein wirklich großer Mann übt sich in Bescheidenheit“. Tatsächlich weidet sich Viscontis faszinierend-überdimensionale Charakter-Studie der bayrischen Majestät nicht am von Pomp und Gloria eingedeckten Selbstzweck, sondern zeigt ein erschlagendes Interesse an der rotierenden Abwärtsspirale des Ludwig II. (Helmut Berger). Als Märchenprinz und Mondanbeter in seinem Volk verschrien, wird anhand dieser Bezeichnungen schon deutlich, dass der aus dem Haus Wittelsbach stammende Ludwig II. wohl eher exzentrischen Gemütes war: Als leidenschaftlicher Schlossbauherr ließ er sich mit Neuschwanstein, Herrenchiemsee und Linderhof romantische Denkmäler aus dem Boden stampfen und verprasste Unsummen, welches das von Unglück verfolgte Bayern eigentlich nicht besaß. Dass sich Luchino Visconti weniger um das politische Amt, als um das seelische Zugrundegehen schert, wird anhand der streng justierten Fokussierung zügig deutlich.
Entgegen des allgemeinen Kanon war Ludwig II. kein unwissender Bonvivant, dem die Weltpolitik am Allerwertesten vorbeizog; er hat sich mit ihr auseinandergesetzt, war – jedenfalls in den ersten Jahren seiner Krönung – immer auf der Höhe der globalen Geschehnisse. Das Problem lag eher darin, dass ihn all die Kriege und all die Unannehmlichkeiten, die Bayern umzogen, eher weniger kümmerten, ja, er eigentlich nichts von jenen Problematiken hören wollte. Indes zeigte er sich als begeisterte Anhänger der schwermütigen Kunst von Richard Wagner (Trevor Howard), förderte ihn sogar finanziell, um eine Freundschaft zu seinem Helden zu erzwingen, die nicht auf Gegenseitigkeit beruhen sollte. Visconti lässt kein gutes Haar an Richard Wagner, zeigt ihn als Opportunisten, als Ausbeuter und als einen elementaren Anstoß für Ludwigs Sturz in die quellende Agonie. Eine andere entscheidende Person war Elisabeth von Österreich. Romy Schneider schlüpft noch einmal in ihre ikonische Rolle der Sissi, ist hier aber keineswegs dazu gezwungen, die Karikatur von dazumal erneut aufzutragen, sondern gibt sich verbittert, verurteilend, verletzend und fragil.
„Ludwig II“ ist ein durch und durch sperriges Unterfangen; ein sensationeller Film, der keine Anstalten dahingehend macht, deplatzierte Hoffnung in Bezug auf seine Hauptfigur zu schüren, seinen Sturz irgendwie abzufedern. Visconti lässt den so aufopferungsvoll agierenden und den sich der Umnachtung seiner historischen Vorlage ohne Kompromisse hingebenden Helmut Berger über 240 Minuten in das Dunkel seines Herzens herabsteigen und bringt das instabile Seelenleben des absolutistischen Monarchen pointiert zum Ausdruck: „Ludwig II“ ist vor allem das Porträt eines Mannes, der lernen musste, dass es in seiner Welt keinen Platz mehr für Träume geben wird. Die Kunst, also der von ihm heiliggesprochene Richard Wagner, und die Frauen, die von ihm vergötterte Elisabeth, standen zu Ludwig prinzipiell in einem transzendenten Verhältnis. Um dieses aber zu einer höheren Erkenntnis zu schrauben, fehlte ihm schlichtweg die Fähigkeit, Hypnose von Delirium zu differenzieren. Im Kern ist dies eine tieftraurige Geschichte, eingebettet in herrlichen, pittoresken Fotografien, die einen Menschen dokumentiert, in dessen verschwenderischen Leben das Schweigen letztlich am schwersten wog.