7.7

MB-Kritik

Klass 2007

Drama – Estonia

7.7

Vallo Kirs
Pärt Uusberg
Lauri Pedaja
Paula Solvak
Mikk Mägi
Riina Ries
Joonas Paas
Kadi Metsla
Triin Tenso
Virgo Ernits
Karl Sakrits
Liina Joonas
Saara Kadak
Kaspar Kannelmäe
Brita Kikas
Mirjam Mesak

Inhalt

Joosep ist der Prügelknabe der Klasse. Auch für Kaspar. Als der ihm jedoch eines Tages zu Hilfe kommt, fühlt sich Anders, der Anführer der Klasse, in seinem Status bedroht. Auf einer Party droht er Kaspar: “In dieser Klasse beschützt niemand Joosep.” Doch die Verteidigung von Joosep wird für Kaspar zu einer Frage der Ehre. Aber das macht alles nur noch schlimmer. Die Misshandlungen gegen Joosep nehmen zu und machen bald auch vor Kaspar keinen Halt mehr. Als Joosep Kaspar bittet, ihm nicht mehr zu helfen, ist es bereits zu spät. Das System immer neuer Bestrafungen, das der um seinen Machtstatus besorgte Anders vorantreibt, nimmt immer drastischere Formen an. Bis die physischen und psychischen Qualen so groß werden, dass die beiden Jungen nur noch einen Ausweg sehen.

Kritik

Jeder kennt das Gefühl, morgens mit verschlafenen Augen in die Klasse zu kommen und wieder schweren Herzens Zeuge davon zu werden, wie ein auserkorener Mitschüler wiederholt vom selbsternannten Alphatier der Gemeinschaft und seinen blinden Schergen tyrannisiert und bloßgestellt wird. Etwas dagegen unternommen haben wohl nur die Wenigstens, zu groß ist die Gefahr, seinen anerkannten Stand zu verlieren und zu pochend die Angst, selber schlagartig in die Opferrolle zu rutschen. Man versteckt sein Mitleid, packt die Mappe auf den Tisch und hofft auf die baldige Ankunft der Lehrkraft – begleitet von beißenden Gewissensbissen. Warum das überall so ist? Weil sich ein derartiger Habitus im Verhaltensmuster des Menschen eingeprägt hat und dieser nicht nur Teil eines Kollektivs sein will, er möchte auch zu gerne der Dirigent eines solchen sein und den Taktstock gen Himmel strecken. Diese Verbundenheit wird oft mit der charakterlosen Mitläuferschaft oder dem blinden Opportunismus assoziiert – Hauptsache man teilt nur aus, muss aber nicht einstecken.

Und dieses stetige Verlangen, sich als Anführer gerieren zu müssen, unbedingt am längeren Hebel zu sitzen, sind, genau wie das Verleugnen jeglicher Courage und Ehre, natürlich auch ein schwerwiegender Bestandteil des eigenen Entwicklungsprozesses. Während die persönlichen, mannigfachen Probleme in der Pubertät für jedes Individuum die schlimmsten zu sein scheinen, ist der Wunsch nach Akzeptanz und die adoleszente Demonstration der eigenen Leistungsfähigkeit ebenso – vordergründig - vollkommen der Normalität verschrieben. Dieses gewöhnliche Auftreten und Benehmen ufert dann ins verwerfliche Extrem aus, wenn das Klassenzimmer oder die Arbeitsstelle plötzlich nur noch nach dem Gesetz des Dschungels agiert und zum zermürbenden Psychoterror ausholt, der eine selektierte Person nach und nach zerbrechen lässt und das vereinte Mobbing als Produkt des maliziösen Zusammenhalt manifestiert. Es entsteht ein Teufelskreis, der alle Beteiligten auf lange Sicht zerstört.

In Ilmar Raags „Klass“ trifft genau dieser Fall ein. Es wird eine Klasse fokussiert, in dem der Schüler Anders das Sagen hat und seine Kameraden wie stumpfe Handlanger um sich schart, ohne jede Reflexion, ohne jedes Gewissen. Das Opfer ist erst nur Joosep, ein introvertierter Junge, der sich allem Anschein nicht in den „coolen Kreis“ einfügen kann und will, schließlich gelingt ihm ja noch nicht einmal ein simpler Korbwurf beim Schulsport. Doch weder Schinder Anders, noch der malträtierte Joosep sind die Hauptfiguren in diesem Schreckensszenario verdrängter Erinnerungen. Dreh- und Angelpunkt wird Kasper (Hervorragend verkörpert von Vallo Kirs, eine unglaubliche Entdeckung!), der sich zu Anfang zur Gefolgschaft Anders' zählt und Joosep bereitwillig nackt in die Mädchenumkleide sperrt, während seine Freundin Thea noch an seinen Anstand appelliert. Eine eigentlich richtige Ermahnung an Kasper, die ihm jedoch kurzerhand in die gleiche Rolle wie Joosep drängt: Er hat dem „Freak“ geholfen.

Zugegeben, „Klass“ ist ein ungemein subjektiver Film, und dieser Umstand demaskiert sein dokumentarisches Anliegen schon als bloße Behauptung; genau wie das Drehbuch mal haarscharf an Klischees entlang schrammt, sie aber auch gerne – allerdings in einem vollkommen vertretbaren Rahmen – bedient. Schließlich sind diese filmgewordenen Klischees auch Erzeugnis unserer Realität. Das Umfeld von Kaspar und Joosep zeichnet sich durch Tumbheit und Naivität aus, denn während Jooseps Vater nur möchte, dass Joosep seinen Peinigern mal so richtig die Fresse politiert, ist Kaspars Oma gesegnet mit verblendeter Blauäugigkeit und hinterfragt keinerlei gefällte Aussage. Den Dingen auf den Zahn fühlen kann keiner der Erziehungsberechtigten, genau wie die Lehrer der Wahrheit nicht ins Gesicht blicken wollen und einzig mit leeren Drohungen jonglieren. Kaspar und Joosep stecken die Demütigungen jeden Tag aufs Neue ein, kassieren Schläge und Tritte und müssen sich an einem Strand der sexualisierten Erniedrigung vor versammelter Mannschaft hingeben.

Am Ende folgt dann die erschütternde Eskalation; eine Katastrophe, der von Minute eins jede Lösungsmöglichkeit und Schuldzuweisung verweigert wurde, weil jede Stellungnahme in diesem Fall als hinderlicher Fremdkörper auftreten würde. Diesen Schritt, den Kaspar und Joosep einschlagen, lässt sich keinesfalls als „logische Konsequenz“ titulieren, selbst wenn er – aufgrund seiner vollständigen Subjektivität – die anderen Mitschüler als widerliche Sadisten ohne Sinn und Verstand darstellt, sondern als ein Resultat von Unmengen angehäufter Fehlreaktionen. Und dort bekommt „Klaas“ seinen dokumentarischen Charakter wieder zugesprochen und macht dieses bleierne Gefühl in der Magengrube erst in vollem Ausmaß spürbar. Fehlende Kommunikation, fehlendes Verantwortungsgefühl und das fehlende Vertreten der Vorbildfunktion – Eine Kulmination, deren verwurzelte Problematik nicht minder diskutabel ist, als das Gehabe der Jugendlichen. „Klass“ ist ein ungemein wichtiger Film, verstörend und leider, leider auch gezeichnet von bitterer Ehrlichkeit.

Fazit

Ein Film, so unangenehm wie eine Hand in den fressenden Reißzähnen der Kreissäge. Das estländische Jugenddrama „Klass“ ist ein echter Geheimtipp und gleichwohl ein Meisterwerk der Soziologie. Alles, was Regisseur Ilmar Raag dem Zuschauer präsentiert, ist so dermaßen menschlich, dass es schmerzt. Ein verstörender Film. Eine bittere Wahrheit.

Autor: Pascal Reis
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