Inhalt
In langen Tableaus zeigen Kameraaufnahmen Verwüstungen, die der Krieg gegen die Ukraine angerichtet hat. Abgehörte Telefongespräche russischer Soldaten mit ihren Familien formen eine schockierende Parallelwelt. Fassungslos stehen sich Bild und Ton gegenüber.
Kritik
Eine vage Aura des Unbehagens liegt bereits über der ersten Einstellung, die eine Gruppe Mädchen beim Spielen am Straßenrand zeigt. Diese unbestimmte Atmosphäre der Bedrohung verfestigt sich mit erschreckender Drastik in Oksana Karpovychs ambivalenter Doku, deren Realität eine gezielt ausgewählte und arrangierte ist. Ziel der im Forum der 74. Berlinale - zumindest der Presse - ohne weitere Einordnung oder Informationen gezeigten Kompilation ist nicht Objektivität, sondern maximale Wirkung. Die erreicht die ukrainische Regisseurin mit teils fragwürdigen Mitteln.
Eines davon hebt sich massiv ab, nicht nur in seiner ethischen Zweifelhaftigkeit, die den emotionalen Effekt der immersiven Inszenierung zunichte zu machen droht, sondern auch in seiner Dissonanz zum motivischen, thematischen und stilistischen Gesamtwerk. Das zerfällt bewusst in zwei Ebenen, die sprachliche und visuelle. Unkommentierte Bilder im nüchternen Observationsstil ihres Langfilm-Debüts Don't Worry, the Doors will Close zeigen ihr Heimatland nach der russischen Invasion. Ausgebombte Häuser, geplünderte Wohnungen, ein Panzerskelett, ausgehobene Gräber, traumatisierte Menschen.
Aber es gibt auch Wiederaufbau, Essensausgaben, Zurückgekehrte. Ein fahrende Tram, Gemeinschaftssport, Radiomusik: ein Stück Normalität. Den Kontrapunkt setzen die Tonaufnahmen abgefangener Anrufe russischer Soldaten. Sie berichten Ehefrauen, Müttern und Schwestern, wie sie morden, rauben, foltern. Die meisten normalisieren ihre mutwilligen Grausamkeiten, manche genießen sie, die wenigsten zeigen Gewissensbisse. Bei der weiblichen Verwandtschaft gärt der Hass genauso. Die Soldaten werden zum Plündern eingeladen, zum Töten angespornt und mit Verschwörungstheorien gefüttert. Worte, die unbehindert noch mehr verstören.
Fazit
Sich die von russischen Soldaten beschriebenen Gräueltaten auszumalen überlässt Oksana Karpovych mit Bedacht dem Publikum. Die Aussage der abgefangenen Heimatanrufe ist unmissverständlich: Wir sind Menschen, die anderen Monster. Doch die gleiche Botschaft von Humanismus vs Unmenschlichkeit sendet Karpovychs beklemmendes Pamphlet. Darin zeigt eine wie ein Fremdkörper wirkende Szene sogar Kriegsgefangene, obwohl deren Vorführung den Genfer Konventionen widerspricht. Im Rahmen eines Publikumsevent mit Unterhaltungscharakter wie der Berlinale ist diese Filmszenen zumindest fragwürdig und bedarf der Kontextualisierung.
Autor: Lida Bach