Inhalt
Dr. Robert Laing zieht nach seiner Scheidung ein außergewöhnliches Hochhaus. Die vierzig Etagen des glamourösen Gebäudes sind klar aufgeteilt: Die Upperclass hat die oberen Stockwerke für sich reserviert, während Familien sich mit den Untergeschossen zufrieden geben müssen. Der 30-jährige Laing hat sein Appartement im mittleren Bereich und freundet sich mit dem Fernsehjournalisten Richard Wilder aus dem zweiten Stock an. Seine große Faszination gilt aber Anthony Royal, dem Architekten und Schöpfer des Ensembles, der ganz oben über allen residiert. Schon bald beginnt es, hinter der glitzernden Oberfläche des Wolkenkratzers zu rumoren. Mysteriöse Schlafprobleme machen den Bewohnern zu schaffen. Hinzu kommen Konflikte zwischen der "Oberschicht" und der "Unterschicht", die immer größere Kreise ziehen. Während eines Stromausfalls brechen die Aggressionen im Haus offen aus. Laing muss mitansehen, wie Verwahrlosung und Anarchie mehr und mehr um sich greifen und in nackte Gewalt umschlagen. Als sein Freund Wilder sich entschließt zu handeln und Anthony Royal zu stürzen, muss sich der junge Doktor entscheiden: Auf welcher Seite steht er?
Kritik
Seit Jahren findet der Schwall aus Comic-Verfilmungen zu keinem Ende, seit Jahren wird der Zuschauer mit dem immer gleichen Bombast-Kino in die Kinosessel gedrückt und unten gehalten, auf dass er ja nicht Raum zum Atmen und Denken finde. Denn das Denken könnte den Zuschauer zu der berüchtigten Information bringen, dass er nun zum hundertsten Male Geld für den quasi gleichen Film bezahlt hat. Im Mainstream-Kino hat das Denken also oft wenig verloren, manchmal ist es gar unerwünscht. Hüten sollte man sich zwar, solche Thesen als allgemeingültig unter die Leser zu bringen (denn das würde ja das Denken ebenso zu unterdrücken versuchen), dennoch scheint es tendenziell eine Behauptung zu sein, die man ruhigen Gewissens so stehen lassen kann. Der neue Film von Ben Wheatley („A Field in England“) ist keine Mainstream-Produktion, doch platziert "High-Rise" sich genau zwischen den Hoheitsgebieten von Indie- und Mainstream-Kino und schafft es, mit einer sehr eigenen Art und Weise ein besonderes Kino-Erlebnis zu kreieren.
Mit einigen durchaus bekannten Namen und zwei Hochkarätern kommt der Cast von „High-Rise“ daher, der durch die Bank hinweg zu überzeugen weiß. Tom Hiddleston („The Avengers“) und Jeremy Irons („Batman v Superman: Dawn of Justice“) sind dabei sicherlich die bekanntesten Herren im Bunde, während Sienna Miller („American Sniper“), Luke Evans („Der Hobbit - Die Schlacht der fünf Heere“) und Elisabeth Moss („Mad Men“). Letztere ist übrigens seit Jahren in einer interessanten Kleinproduktion nach der nächsten zu sehen, da lohnt es sich, wachsam zu bleiben. Der Regisseur selbst, der Brite Ben Wheatley, führt sein aufsehenerregendes Oeuvre, das nun aus mittlerweile fünf Filmen besteht, konsequent fort. Waren seine ersten beiden Produktionen schwer verdauliche Thriller, inszenierte er darauf eine von Edgar Wright produzierte schwarze Komödie im Stile eines „couple on the run“-Films. Nach eigener Aussage wollte er den Wahnsinn dieser Produktionen mit den technischen Raffinessen seines Films „A Field in England“ vermischen und in „High-Rise“ unter einen Hut kriegen. Das ist ihm gelungen.
Die Adaption des gleichnamigen Romans von J.G. Ballard spielt in einer Version der 70er Jahre. Die Möbel sehen klar nach 70er aus, die Schlaghosen auch und dann wäre da noch die Tatsache, dass die schwangere Helen Wilder eine Zigarette nach der anderen vertilgt. Ja, der Wahnsinn hier entfaltet sich klar in den tiefsten Tiefen der 70er Jahre. „High-Rise“ nutzt jedoch diese Zeitreise, um mithilfe der Vergangenheit eine Geschichte über die Zukunft zu erzählen - bzw. über das bittere Jetzt. Denn das, was sich in diesem Hochhaus entfaltet, obwohl es vollkommen abgegrenzt von der Außenwelt ist, sagt eine Menge über das aus, was die Menschheit zu ignorieren versucht. Als Dr. Laing sein Apartment in dem Hotel bezieht, lässt er zahlreiche Umzugskartons in die leeren Räumlichkeiten schaffen. Während er den Trägern zusieht, raucht er, befühlt das Material der Wände, schließt den Reißverschluss seiner Hose. Diese Momente der Ruhe spielen noch weit vor dem Irrsinn, der noch von der Leine gelassen wird. Und ein Stück weit auch danach.
Laing ist frisch geschieden und nun alles, was er noch besitzt. Ein einziges Memorabilia besitzt er, eine Fotografie von ihm und einer Frau. Ob das seine Exfrau oder doch seine Schwester, wie von Charlotte Melville gefragt wird, ist, lässt er offen. Ist ja auch egal, wichtig ist, dass das Foto kurz daraufhin auf dem Fußboden landet und vergessen wird. Wen juckt es da schon, wer auf dem Foto war. Eine Frau und eine vergessene Version von Laing in einer vergessenen Welt, seit er in dem Hochhaus wohnt. Im 25. Stock, also recht weit oben. So hoch oben, dass die abknickenden Etagen nur kurz über ihm sind. Der Architekt der Häuser, Anthony Royal, ist begeistert von seinen Ideen, die fünf Hochhäuser um einen See herum zu platzieren. Die abknickenden Spitzen symbolisieren die obersten Glieder der Finger, in der Mitte der Gebäude ist ein See. Das Großprojekt ist eine Hand, die aus der Erde entspringt. Eine derart geformte Hand, mit der Könige den Reichsapfel getragen haben. Oder die Welt.
Je weiter oben man in diesem Hochhaus wohnt, desto höher ist die Lebensqualität, desto höher angesehen ist der Bewohner, desto mehr Räumlichkeiten darf er besuchen, desto besser werden die Partys. Die Symbolik ist dabei ebenso einfach wie wirkungsvoll. Sie stehen, gehen und leben auf den Händen und Köpfen der Menschen, die weiter unten wohnen. Interessant ist dabei nicht, wer wo wohnt, sondern wie die Bewohner mit ihren verschiedenen Rängen umgehen. Helen Wilder zum Beispiel, die mit ihren Kindern und ihrem Mann weiter unten wohnt, spricht über die sozialen Gepflogenheiten der Bewohner. Sie spricht darüber, dass das Aufmerksamkeitsfeld der meisten nur ihre eigene Etage und vielleicht noch eine nach oben und nach unten umspannt. Sonderliches Interesse für andere herrscht nicht, vor allem nicht für Leute, die weiter unten wohnen. Weil die Oberen nicht gerne daran erinnert werden, dass sie theoretisch fallen könnten.
Nachdem Regisseur Ben Wheatley die Ausgangssituation stabil errichtet hat, macht er sich daran, alles wieder einzureißen. Manchmal genüsslich und sorgfältig, dann wieder grob mit der Planierraupe. Der Film wurde im Voraus oft mit Bong Joon-hos „Snowpiercer“ verglichen, was thematisch betrachtet durchaus Sinn ergibt. Dennoch hören die Gemeinsamkeiten der Filme dort auf, wo Chris Evans und Konsortien beginnen, sich durch den Zug nach vorne zu metzeln. Außerdem können die Insassen des Zuges im Film von 2013 diesen nicht wirklich verlassen, da die Welt um sie herum de facto unbewohnbar ist. In „High-Rise“ ist die Welt sehr wohl bewohnbar, die Hochhäuser versuchen bloß, den Bewohnern keinen Grund zu geben, um den Mikrokosmos des Hauses zu verlassen. Deshalb bieten ganze Etagen Möglichkeiten zum Einkaufen und für Freizeitaktivitäten. Sobald aber das Chaos von Wheatley entfesselt wird, beginnt eine andere Parallele mehr Sinn zu machen. Das Hochhaus ähnelt der Titanic - nur dass keiner der Bewohner das Schiff rechtzeitig verlassen kann. Und alle verdammt sind, ihre Leben genau dort fortzuführen. Am tiefsten und dunkelsten Punkt der Erde.
Fazit
Mit „High-Rise“ ist Ben Wheatley der erhofft interessante Film gelungen. Hinter seinem stets klar erkennbaren Inszenierungsstil versammeln sich durchweg gute Darsteller, ein stringent verfasstes Drehbuch und ein Score von Clint Mansell, der mal von tieferen Geheimnissen zeugt, mal den Zuschauer in der Hand wiegt und im nächsten Moment fallen lässt. „High-Rise“ ist sicherlich kein Film, der leicht zu verdauen ist und auch kein Film, der spurlos am Zuschauer vorbeirauschen wird. Ein Film, der nicht nur gibt, sondern auch fordert. Doch genau darin lässt sich seine Klasse finden. Darin, dass der Film keine falschen und vor allem keine leeren Versprechungen macht, sondern stets abliefert. Und nicht zuletzt darin, dass die Geschichte, die er erzählt, so universal ist, dass man sie auch problemlos auf die Situation anwenden kann, in der Deutschland sich seit einigen Monaten befindet und aus der sich auch niemand herauswinden kann, der hier lebt. Manchmal muss man eben daran erinnert werden, wie hoch hinauf man schon geklommen ist.
Autor: Levin Günther