Bewegliche Ziele ist nur ein weiterer, indirekter Beleg dafür, von was für einem unschätzbaren Wert der oft belächelte Roger Corman (Der Massenmörder von London) für das US-amerikanische Kino einst war. Unter seinen Fittichen lernte viele spätere Stars das Laufen, so auch Peter Bogdanovich (Die letzte Vorstellung), der Anfang der 60er als Corman’s Regie-Assistent erste praktische Erfahrungen sammelte. Sein Brötchengeber ermöglichte ihm wenige Jahre später sein Regiedebüt, unter ihm typischen Bedingungen: Boris Karloff (Frankenstein) „schuldete“ Corman aus vorangegangenen Arbeiten noch zwei Drehtage. Diese würde er Bogdanovich überlassen, der daraus zwanzig Minuten verwertbares Material drehen sollte. Weitere zwanzig Minuten würden ihm aus dem 1963 gedrehten The Terror zu Verfügung gestellt, den Corman und Karloff damals gemeinsam drehten. Die restlichen 40 Minuten sollte Bogdanovich mit 100.000 $ Budget frei gestalten und daraus irgendetwas zimmern, was sich an Corman’s Haus- und Hof-Studio American Internation Pictures gewinnbringend verkaufen ließ.
Eine schier absurde Aufgabe: Ein Regieneuling bekommt einen bereits schwer kranken Genre-Star für zwei Drehtage, Füllmaterial aus einem viktorianisch angehauchten Low-Budget-Gruselfilm und gerade so viel Zeit und Geld, das man aus dem Stehgreif etwas drumherum dreht, damit man auf brauchbare 80 Minuten Spielfilm kommt. Es klingt furchtbar, gar würdelos für eine Legende wie Boris Karloff und selbst für das Geschenk sich als Regisseur zu beweisen eigentlich nur undankbar. Wie sollte man unter diesen Gegebenheiten etwas erschaffen, das nicht nur maximal als kurioses Trash-Spektakel funktionieren könnte? Doch Bogdanovich gelingt dieser Zaubertrick. Gemeinsam mit seiner Gattin Polly Platt verfasste er ein Script (das von Samuel Fuller ehrenamtlich den notwendigen Feinschliff erhielt), das eben nicht den naheliegenden Weg wählte. Die meisten Menschen hätten schlicht versucht, das Archivmaterial mit weiteren Karloff-Drehs aufzublähen und damit praktisch eine neue Version von The Terror mit anderem Titel abzuliefern (was Roger Corman genau genommen ja auch ganz gerne gemacht hat). Stattdessen erzählen sie zwei parallel stattfindende Plots, die sich erst im Finale miteinander vermischen. Den des greisen Horrorfilmstars Byron Orlok (Karloff, wer sonst?), der kurz vor der Premiere seines neuesten Films (da kommt das Material von The Terror ins Spiel) beschließt, dass es das für ihn gewesen ist. Obwohl ihn sein Produzent unter Druck setzt und sein Drehbuchautor (Bogdanovich selbst) quasi auf Knien anfleht, er sieht für sich – in dieser Funktion – keinen Platz mehr in der modernen, sich stark gewandelten Welt.
„Ich bin eine Antiquität; außer Mode.“
„Ich bin ein Anachronismus…“
Orlok hat sehr wohl erkannt, dass er sich mit seinem Ruhm aus alten Tagen in eine künstlerische Sackgasse manövriert hat. Damals wurde er reich und berühmt als Schreckgespenst, doch schnell darauf versteift. Eine Vielfallt als Darsteller blieb ihm verwehrt, heute ist er nur noch ein Relikt aus einer Zeit, die nicht mehr mit der Moderne mithalten kann. Mit dem Verweis auf einem Zeitungsartikel, der von einem Amoklauf an einer Schule berichtet, stellt er dieses Dilemma hervor: Die Menschen haben keine Angst mehr vor seinen veralteten Filmen, sie fürchten sich vor der schockierenden Brutalität des Alltags. Passend dazu schildert die Parallelhandlung genau das. Bobby Thompson (Tim O’Kelly) ist sowas wie der republikanisch-amerikanische Traum-Durchschnittsbürger. Weiß, verheiratet, christlich; ein sauberer, konservativer Familienmensch in einer geordneten Vorortwelt, der gemeinsam mit seinem Vater der toxischen, aber uramerikanischen und verfassungsgeschützten Passion für Schusswaffen erliegt. Bis ihn eines Tages Stimmen im Kopf Versagensängste und Minderwertigkeitskomplexe flüstern. Etwas, worüber man in diesem Milieu nicht spricht. Alles wird stillschweigend, höflich lächelnd so lange ignoriert, bis sich im Kofferraum ein stattliches Waffenarsenal angesammelt hat. Und der nette, unauffällige Bursche von Nebenan plötzlich seinen von Kindheit an angefütterten Trieben folgt, anstatt sie krampfhaft zu unterdrücken.
Auf der einen Seite hat man einen mitunter sehr humorvollen, selbstreflektierten Einblick in das Seelenleben eines gealterten Filmstars, versehen mit satirischen Seitenhieben auf das Business an sich. Auf der anderen einen schockierenden, eiskalten Amoklauf, der sogar aus heutiger Sicht noch unglaublich radikal und mutig wirkt. Selbst für die wilden Anfangszeiten der New Hollywood-Bewegung lehnt sich Peter Bogdanovich extrem weit aus dem Fenster. Schonungslos ist noch eine milde Bezeichnung für die rigorose, in seiner drastischen Unerklärlichkeit erschreckend glaubwürdige Dramaturgie, die sich an dem realen Fall von Charles Whitman, dem Texas-University-Sniper, orientiert. Das mag überhaupt nicht zusammenpassen, aber gerade der kleine Verweis auf die Vergänglichkeit einstiger Schockmomente im Vergleich mit dem wirklich unbeschreiblichen Grauen der Realität reicht schon, um das Ganze nicht willkürlich erscheinen zu lassen. Was es in seinem Ursprung natürlich mehr oder weniger ist. Peter Bogdanovich liefert mit Bewegliche Ziele nicht nur ein Gesellenstück bei der Corman-Reifeprüfung ab, er etabliert sich unter kuriosen Bedingungen als exzellenter Filmemacher. Wie er diese aus der Not geborenen Elemente miteinander harmonieren lässt, diese grandios inszeniert (die unter teils spartanischen Möglichkeiten entstanden Montagen sind mitunter atemberaubend), den Grundgedanken von New Hollywood so drastisch auslebt wie niemand zu diesem Zeitpunkt und dazu dem grandiosen Boris Karloff unter diesen sonderbaren Bedingungen noch einen würdevollen Abgang mit Stil beschert…das ist einfach nur wunderbar und verdient einen ganz tiefen Knicks.
Happy End am Rande: Er konnte das Script sogar an Paramount verkaufen und Corman den Vorschuss mit Gewinn zurückzahlen. Manchmal ist dieses Business auch fair.