Inhalt
Der israelische Filmemacher Y. reist in ein abgelegenes Dorf inmitten der Wüste von Arava, um in der dortigen Bibliothek seinen letzten Film vorzustellen. Seine Gedanken sind längst bei einem neuen Projekt, einem Film über die palästinensische Aktivistin Ahed Tamimi, die einige Jahre zuvor vor laufenden Kameras einen Soldaten geohrfeigt hatte. Bei seiner Ankunft in dem Wüstenort wird Y. von Yahalom, der jungen stellvertretenden Leiterin der israelischen Bibliotheken, herzlichst empfangen. Vor der Veranstaltung wäre aber noch eine kleine Formalie zu erledigen: Y. soll ein neues Formular unterzeichnen, mit dem er seine Loyalität gegenüber der Regierung bestätigt. Anstatt zu unterschreiben, startet Y. einen leidenschaftlichen Kampf für die Meinungsfreiheit seines Landes, einen verzweifelten Versuch, die israelische Demokratie vor dem freien Fall zu retten ...
Kritik
Die Geschichte jener palästinensischen Demonstrantin, deren Knie dem neuen Film von Nadav Lapid einen Titel gibt, dient lediglich als Aufhänger für die eigentlich Erzählung. Ebenso die Gewaltdrohung eines ranghohen Abgeordneten, der Studentin in dieses Knie schießen zu wollen. Das menschliche Knie, welches Lapid als Kombination von Stärke und Zerbrechlichkeit umschreibt, wird zum Sinnbild nachfolgender 100 Minuten, die sich einer gänzlich anderen Perspektive, der eines renommierten israelischen Filmemachers, widmen. Jene Hauptfigur, gespielt von Avshalom Pollak, lässt nicht nur aufgrund ihrer kryptischen Benennung Y Interpretations- und vor allem Projektionsmöglichkeiten offen, in vielen Momenten überschneiden sich dessen Geschichte und Erfahrungen offenkundig mit jenen des Regisseuren. Y wird zum Alter Ego, durch welches der Gewinner des Goldenen Bären (für Synonymes) aufgestauter Unzufriedenheit und Entrüstung Ausdruck verleihen kann.
Vorrangig widmet sich der Film der Auseinandersetzung mit der Meinungs- sowie der künstlerischen Freiheit, angestoßen durch ein Formular, welches die öffentliche Thematisierungen spezieller Inhalte beschränkt oder gar untersagt. Zwangsläufig führt diese Auseinandersetzung mit den Grenzabtastungen von Kunst(werken) und der staatlichen Zensur zu klarer politischer Aussprache. Diese nicht etwa durch subtile Einbindung in die Dialoge, stattdessen in klaren Worten und mit inszenatorischer Dringlichkeit. Aheds Knie ist ein Film, aus dem es gelegentlich ausbricht, der in etlichen Gesprächen anprangert, aber auch verletztend aus seiner Figur heraus sprechen kann. Dass die meisten Charaktere in stetigem Bezug zum gezeigten Diskurs stehen und somit selten an weitreichenderer Tiefe gewinnen, kann die Zugänglichkeit zum Geschehen erschweren.
Selbstzentriert und eigenwillig folgt der Regisseur seiner Hauptfigur, deren Aufgebrachtsein sich kontinuierlich auf die Kamerabewegung überträgt. Dialoge werden in nur wenigen Schnitten inszeniert, viel öfter schwenkt die Kamera eilig zwischen den Gesichtern hin und her, um ja keinen Ausdruck zu verpassen. Das unterstreicht nicht nur die Unruhe, welche sich erst im letzten Teil des Films in einer ausführlichen Dialogszene entlädt, sondern sorgt auch für ein Schwindel- und Ohnmachtsgefühl. Jene Empfindsam- und Erfahrbarkeit äußert sich zudem in der spürbaren Körperlichkeit einiger Bilder, sei es das penetrante Auf- und Abgehen des Protagonisten beim Telefonieren oder das Hinlegen auf den staubigen Boden. Zudem tritt der Sound in vielen Szenen mit großer Intensität nach vorn, Straßenverkehrs- und Motorgeräusche ebenso wie laute Musik aus Kopfhörern. Ausschnitte aus der Vergangenheit des Protagonisten und musicalartige Elemente ergänzen das ohnehin nicht sehr formell erzählte Filmdrama zu einer ungewöhnlichen wie kräftezehrenden Seherfahrung.
Fazit
Den Großteil seiner Laufzeit verkörpert „Aheds Knie“ ein brodelndes Unruhegefühl, welchem sich Hauptfigur und vor allem die Kameraführung unterordnen. Verknüpft mit diesem Gefühl blickt der Film auf die Freiheit der Meinung und der Kunst sowie die Schritte staatlicher Zensur, vom Regisseur stets biografisch gefärbt. Ein impulsiver, eigenwilliger Film, der sowohl erfrischend Erzählmuster aufbricht, als auch einzelne Szenen und Stilmittel mühsam auswalzt.
Autor: Paul Seidel