Pascal und ich haben jetzt anderthalb Staffeln „Bilder des Zerfalls“ hinter uns. Fünfzehn Filme haben wir gesehen und von fünfzehn Filmen uns die Seele schänden lassen. Aber das macht doch auch irgendwie den Reiz einer Reihe wie dieser aus - es ist unmöglich Routine entstehen zu lassen. Unmöglich, ein „alter Hase“ zu werden und unmöglich, die Filme, die wir uns hier vor die Brust nehmen, als normales Seherlebnis einzuordnen. Deswegen ist jede Woche eine Herausforderung, wobei jene weniger in der Überwindung liegt (die ist mal vorausgesetzt, schließlich machen wir das freiwillig), sondern viel mehr darin, ein Werk adäquat in Worte zu fassen, an dem sich schon unzählige andere zuvor die Zähne ausgebissen haben. Die Folge von diesem Zähneausbeißen ist dann schnell ein Phrasendreschen im Stile von „entweder man liebt den Film oder man hasst ihn“. Ganz so einfach ist es aber nie, auch nicht bei „Die 120 Tage von Sodom“, dabei scheint dies der Film zu sein, für den genannte Phrase erschaffen wurde.
Pier Paolo Pasolinis letztes Werk lässt sich nicht lumpen. Alles, was man über diesen Film liest oder hört, ist wahr. Der Film ist widerlich, er überschreitet Grenzen, rennt sie quasi ein, wäre die Art, wie er es tut nicht so gemächlich. Der Film ist nämlich mitnichten aufgebauscht dramatisiert, viel mehr zeigt er ruhig, fast müde, wie die Jugendlichen gezwungen werden, Kot zu essen, darin zu baden, wie sie von den Männern vergewaltigt werden oder zum Sex mit ihnen gezwungen werden, wie am Ende dann die Unterdrückung in reine körperliche Gewalt umschlägt und Pasolini auf den letzten Metern doch noch grausigen Gore mit einbezieht. Es geht Pasolini nicht um einen Genrebeitrag. Dies ist kein Film, der den Zuschauer auf den Rand des Sitzes ziehen möchte, in der Hoffnung, die Jugendlichen könnten irgendwie entkommen. Bei der Ankunft auf dem Anwesen verkünden die Männer kurz, dass niemand wisse, wo die Jugendlichen seien, dass sie für die Welt tot seien. Und damit hat es sich.
In visueller Hinsicht also ist der Film zwar überaus ruhig, aber hauptsächlich explizit. Ausnahmslos alles wird gezeigt und das ist auch der Grund, weshalb der Film derart verpönt war. Dass Pasolini kurze Zeit nach seiner Arbeit an dem Film unter ungeklärten Umständen ermordet wurde (man munkelt in Richtung politischen Motiven) zeigt einerseits die Brisanz seiner Arbeit (hatte doch schon sein erster Film „Accattone“ Unruhen zur Folge) und andererseits verfestigt es noch den mysteriösen Ruf, der sich um „Saló“ rankt. Vertreter des Werkes zeigen immer wieder auf, dass es sich bei dieser expliziten Tortur um einen Kommentar bzgl. eines faschistischen Regimes handelt und Allmachtsphantasien und Unterdrückung nachdrücklich bebildert. Und in dieser Hinsicht findet Pasolini sogar ein paar gute Momente. Einer davon ist der Vorspann selbst. Pasolini beginnt den Film mit lässiger Musik, er möchte den Zuschauer einlullen, während die Macher des Werkes auf dem Bildschirm erscheinen. Damit bildet er zum ersten einen Kontrast zwischen gezeigtem und dem bevorstehenden. Und zum zweiten setzt schon hier die Faschismus-Kritik ein. Faschismus, der vor allem dank Propaganda funktioniert, also eine Überhöhung der Verantwortlichen. Genau das betreibt Pasolini hier in dem Vorspann ganz genüsslich.
Auf den Vorspann folgt bereits Menschenverachtung zum Quadrat. Mit einer ekelerregenden Ruhe unterhalten sich die erwachsenen Männer, die sich zum Großteil nur mit ihren Titeln anreden, über bevorstehende Vergewaltigungen, über ihre Phantasien und Vorlieben, die ausnahmslos anderer Menschen Albtraum sein können. Die Jugendlichen werden ausgewählt, sortiert, vorgeführt und bewertet. Es sind Szenen, wie auf dem Viehmarkt, oder in den Konzentrationslagern des Dritten Reichs. Pasolini zeigt, wie die Männer ihr Selbstbild nur durch die Unterdrückung und Entwertung anderer aufbauen und halten können. Wie sie nur durch Entwürdigung und Entmenschlichung zufriedengestellt werden können. Deutlich wird das in einer Szene des „Castings“: Ein lachendes Mädchen wird aussortiert, weil es ihre Zahnlücke entblößt hat. Ein markerschütternd weinendes Mädchen wird sofort einstimmig ausgewählt.
Eine besonders radikale filmische Abrechnung mit Faschismus und Unterdrückung ist dieser Film also. Jedoch eine, deren Problemzone nicht in der expliziten Darstellung von ekelerregenden und bestialischen Taten zu finden ist, sondern darin, dass der Film selbst keine Entwicklung zeigt. Die massive Unmenschlichkeit des Films ist bereits nach einer Viertelstunde etabliert. Ändern wird sich daran nichts über die folgenden gut 100 Minuten. Keine neuen Aspekte kommen hinzu, stattdessen wird genannte Unmenschlichkeit bloß immer weiter ins Extreme gesteigert, ohne neue Facetten in dieser Steigerung zu finden. Eine Steigerung um ihrer selbst Willen, sodass man über den Film bereits nach kurzer Zeit alles erfahren hat, was es zu erfahren gibt. Es ist also gar nicht mal die extreme Visualisierung der Vorgänge, die dem Film den Rücken bricht, sondern viel mehr die Tatsache, dass Pasolini gar nicht recht weiß, was bei all dem Wahnsinn noch mal genau der Punkt war. Die Moral von der Geschicht’ ist bereits nach zwanzig Minuten deutlich, sonderlich viel ändern wird sich danach nichts, wichtige Punkte hinzukommen werden ebenfalls nicht.
Selten war ein Film passender für den Titel unser Kolumne, selten wird der Zerfall, sei er nun kulturell, menschlich, politisch, gesellschaftlichn, ethisch, moralisch oder juristisch, konsequenter gezeigt als hier. Es ist überaus schwierig, angemessen auf diesen Film zu reagieren. Es ist unmöglich zu sagen, was in diesem Zusammenhang überhaupt angemessen bedeutet. Es ist jedoch deutlich zu sagen, dass der Film nicht das erhoffte Meisterwerk ist, sondern lediglich ein Werk, das für den Filmfanatiker und -historiker von Bedeutung ist, um das der normale Filmfreund aber auch gern einen Bogen machen darf. Der Vorwurf der Pornographie ist jedoch einmal mehr kurzsichtig gedacht. Pasolini nutzt die explizite Darstellung nie zur Stimulierung und macht gleich zu Beginn deutlich, dass es sich um verachtenswerte Ausbeutung handelt. Der fade Beigeschmack bleibt dennoch; ein wichtiger Film steckt hier irgendwo drin, Pasolini ist es nur nicht gelungen, ihn zutage zu befördern.