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Bilder des Zerfalls: Im Klammergriff der Kontroverse - Teil 15

von Pascal Reis

„Die 120 Tage von Sodom“. Wer diesen Film einmal gesehen hat, braucht viel Kraft und Mut, den Titel infolgedessen erneut auszusprechen. Es ist Pier Paolo Pasolinis Vermächtnis. Es ist das letzte Werk, welches dieser Mann, der sich zu Lebzeiten selbst als 'katholischer Marxist' beschrieben hat und dessen mysteriösen Todesumstände bis heute ungeklärt sind, der Menschheit überlassen hat: Ein Film, der sich ganz explizit mit der Umkehrung von Menschlichkeit beschäftigt. Dass „Die 120 Tage von Sodom“ einen erheblichen Teil seiner Popularität aus seinem von Kontroversen regelrecht umwitterten Gebaren entlehnt, steht außer Frage. Was Pier Paolo Pasolini hier auf Zelluloid gebannt hat, zählt zum Skandalträchtigsten, was das Medium jemals zu Tage förderte. Seit den späten 1980er Jahren steht „Die 120 Tage von Sodom“ auch in Deutschland auf der Liste jugendgefährdender Medien. Am 4. November 2004 wurde die Indizierung verifiziert. Was aber trägt dieser Film an sich, dass er bis heute für kollektive Entrüstung sorgt?

Würde man sich einer gewissen Polemik bedienen, könnte man diese Frage damit beantworten, dass er schlichtweg zu wahrhaftig ist, denn, wenn uns die Historie der Zensurbehörden in der Vergangenheit etwas gelehrt hat, dann wohl, dass sich dort überwiegend auf den reinen Oberflächenreiz berufen wird, anstatt sich tiefergehend mit der Materie auseinanderzusetzen. Selbstverständlich ist „Die 120 Tage von Sodom“ nicht für Kinder oder junge Jugendliche geeignet. Die (memorablen) Bilder, mit denen Pier Paolo Pasolini hier aufwartet, Schmerzen ungemein und sprechen eine Garantie dahingehend aus, für Verstörung innerhalb der Publikumsschaft zu sorgen. Der Unterschied zu den blutdurstenden Gewaltexzessen, die sich auf dem Index inzwischen in Hülle und Fülle angesammelt haben, aber liegt auf der Hand: „Die 120 Tage von Sodom“ reiht Grausamkeit an Grausamkeit, stellt dem Zuschauer aber niemals in Aussicht, sich an diesen Bestialitäten zu ergötzen. Pier Paolo Pasolini wahrt Nüchternheit in seiner Inszenierung, behält uns auf Distanz, weil er kein konkretes Emotionalisieren benötigt.

Wir finden uns dennoch in der Rolle der Gepeinigten wieder, ohne, dass uns „Die 120 Tage von Sodom“ aufzwingt, Empathie zu leisten, was dem Umstand anzurechnen ist, dass die Nadel des moralischen Kompasses des Films niemals ins Zittern gerät. Pier Paolo Pasolini hat eine klare Position – und diese bringt er, in beharrlicher Gnadenlosigkeit, zum Ausdruck. Das hochherrschaftliche Anwesen in der Republik von Salò, in der die Geschichte angesiedelt ist, wird von Beginn an als rechtsfreier Raum definiert. Heranwachsende Frauen und Männer sind hier den Macht- und Kontrollobsessionen eines Ensembles ausgeliefert, welches durchaus einer intellektuellen, einer feingeistigen Gesellschaftsschicht zuzurechnen ist, in Wahrheit aber hat genau diese Gruppierung schon jedweden Sinn für Sittlichkeit und Ethik, sprich, Gesellschaftsfähigkeit, verloren. Es folgt eine inszenatorische Verdichtung, die sich allein auf die soziologischen Mechanismen reiner Entmenschlichung fokussiert. Vergewaltigungen, Gewalt und Demütigungen jeglicher Couleur stehen auf der Tagesordnung. Eine apokalyptische, unlängst Realität gewordene Vision entflammt.

Man muss, auch als inbrünstiger Verfechter von „Die 120 Tage von Sodom“ einräumen, dass es durchaus verständlich ist, warum dieser Film derart umstritten ist; warum er so maßlos polarisiert. Es ist eine Herausforderung, dem Geschehen beizuwohnen; es ist eine Herausforderung, nicht vorzeitig die Reißleine zu ziehen und sich angewidert abzuwenden. Pier Paolo Pasolini aber ist ein Meister darin, den gesellschaftlichen Beißreflex zu entlarven und entwirft eine Parabel, die sich nicht nur in eine Richtung deuten lässt: Ob als politische wie kulturelle Allegorie, als Abhandlung literarischer Vorboten, als (er-)drückende Zukunftsvision. Die Kombination aus allen Konnotationen macht „Die 120 Tage von Sodom“ so reichhaltig, so künstlerisch wertvoll. Der Rückfall in barbarische, ja, vorzivilisatorische Verhaltensmuster ist ein Themenkomplex, der überzeitliche Kapazität genießt. Umso wichtiger ist es, sich mit ihm zu befassen, sich ihm in seiner ganzen Radikalisierung ebenso radikal anzunehmen. Ohne Ausflüchte, ohne Verflachung. Nur so übersteht man die Ewigkeit. Nur so wird das ambitiöse Bestreben zum erschütternden Monument.

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