37 Filme konnte ich beim diesjährigen Festival de Cannes sehen. An dieser Stelle präsentiere ich meine 10 Favoriten.
10: Close
Bisweilen als Wunderkind bezeichnet, unterstreicht der Belgier Lukas Dhont mit seinem mit dem Grand Prix der Jury ausgezeichneten Coming-of-Age-Drama Close, dass mit ihm in der Zukunft zu rechnen sein wird. Inmitten eines nahezu gänzlich von etablierten Regiseurïnnen bestimmten Wettbewerbs zementiert Dhont seinen Status als großes Talent des europäischen Kinos, wird sich aber zugleich auch den Vorwurf gefallen lassen müssen, die Radikalität, die sich in seinem Film über die, wie es der Titel suggeriert, besonders „engen“ Freundschaft zweier dreizehnjähriger Jungen wiederholt andeutet, zu Gunsten einer allzu breiten Geschichte über Trauer über Bord zu werfen. Doch obgleich Dhont in seinem Nachfolger zum erst gefeierten sowie vielfach ausgezeichneten (und in der Folge insbesondere von der Queer-Community heftig kritisierten) Girl dem Missverständnis anheimfällt, die Universalität seiner Geschichte durch möglichst breite, klare und zugängliche Gefühle herauszuarbeiten, so stellt der junge Auteur insbesondere in der ersten Hälfte von Close sein tiefes Verständnis für all das unter Beweis, was in zwischenmenschlichen Beziehungen stets ungesagt bleibt. Meisterhaft fängt Dhont mit seinen Kamerafahrten durch die Blumenfelder die Energie seiner beiden jugendlichen Protagonisten ein, bleibt ihnen aber auch in ihren Momenten größter Unsicherheit ganz nah. Im Zentrum steht die zentrale Freundschaft der beiden Jungen Rémi (Gustav De Waele) und Léo (Eden Dambrine), deren Zustand selbstverständlicher Intimität zunehmend Risse ausbildet, während Dhont den freundschaftlichen Raum zwischen zweisamer Inselhaftigkeit und ihrer gesellschaftlichen Eingebundenheit auslotet, changierend in einem Zwischenraum von gemeinschaftlicher Utopie und sozialen Logiken. Es bleibt abzuwarten, ob es Lukas Dhont in der Zukunft gelingen wird, sich von den scheinbar notwendigen narrativen Konventionen zu befreien, die sein Kino aktuell noch im Zaum halten.
9: Die Frau im Nebel
Es wäre keineswegs vermessen, bezeichnete man Park Chan-wooks Decision to Leave als den elegantesten Film seines Œuvres. Nicht, dass es jemals die Eleganz gewesen wäre, die das Kino des Koreaners auszeichnet. Zweifellos jedoch fügt sein neuester Film, eine Mischung aus Melodram und Kriminalgeschichte, die nur vordergründig als Whodunit daherkommt, dem Werk des 58-Jährigen einen Twist hinzu: die Twistlosigkeit. Denn während Parks Kino—vielleicht mehr als jedes andere—insbesondere für wendungsreiche Plotkonstruktionen steht, sieht er nun gänzlich davon ab. Die Geschichte um den Kommissar Hae-jun (porträtiert durch den aus A Muse und Memories of Murder bekannten Park Hae-il) und die des Mordes verdächtigte, anrüchige Seo-rae (eine Femme-Fatale-Performance der großartigen Tang Wei (Lust, Caution, Long Day's Journey into Night)), in die er sich bei einem verschwenderisch teuren Sushi auf der Polizeistation verliebt, spielt sich tatsächlich genauso ab, wie erwartet—oder wie man es erwarten würde, hieße der Regisseur nicht Park Chan-wook. Statt sein Publikum wie in seinen Klassikern Oldboy oder The Handmaiden über einen langen Zeitraum über wichtigste Handlungselemente im Unklaren zu lassen, um über plötzliche Wendungen Spannung aufzubauen, bindet uns der Koreaner nun allein durch die Aufrichtigkeit seines Protagonisten und die inszenatorische Eleganz, für die der Koreaner nicht zu Unrecht die Palme für die beste Regie entgegennahm.
8: Triangle of Sadness
Zugegeben, die Ziele, die Ruben Östlund in seinem zweiten Palm-d’Or-Gewinner anvisiert, sind gleichermaßen naheliegend wie erwartbar. Das zentrale junge Paar—die Vollzeit-Influencer und Models Carl (Harris Dickinson, The Souvenir: Part II) und Yaya (Charlbi Dean)—das Östlund in seinem Dreiakter von ihrem Alltag in der Modeindustrie über ihren Aufenthalt in einer Luxus-Suite auf einer Milliardärsyacht bis hin zu ihrem Schiffbruch an einem entlegenen Strand begleitet, ist in seiner Unbedarftheit indessen unwahrscheinlich charmant und macht es bisweilen vergessen, dass Östlunds Drehbuch denkbar dünn gerät und sich nur allzu sehr auf seine Inszenierung verlässt. Jene Subtilität und Komplexität, mit der Östlunds Play und Force Majeure daherkamen, weichen hier, wie schon in The Square, der Lautmalerei und dem Klamauk. Doch obgleich das einige abschrecken dürfte, die schon in Östlunds letzter Palm d’Or-prämierten Satire der Kunstwelt eine allzu offensichtliche wie sinnlose Extravaganz erkannten, so muss doch festgehalten werden, dass sich noch kein Östlund-Film durchgehend so stilsicher anfühlte wie Triangle of Sadness. Als reisten Östlunds Figuren von der der Oberfläche verhafteten Gegenwart hin zu einem scheinbaren Naturzustand, in der längst verkonsumierte Klassenfragen wiederauftreten, präsentiert uns der schwedische Auteur eine gleichermaßen unterhaltsame wie parabelartige Geschichte, derer man aufgrund der inszenatorischen Souveränität trotz der zweieinhalbstündigen Laufzeit nicht überdrüssig wird.
7: Showing Up
Es ist schon beachtlich, wie es Kelly Reichhardt immer wieder gelingt, kleinste und unscheinbare Universen zu kreieren, die sich, insbesondere in der Retrospektive—sobald der Abspann einsetzt—wie ein Stück gelebtes Leben anfühlen, an dem wir über die stets knappe Laufzeit hinweg teilhaben durften. Reichardt, die neben ihrer Karriere als Filmemacherin weiterhin als "Artist in Residence" am Bard College in New York tätig ist, entführt uns in ihrer neuesten Slice-of-Life-Dramedy abermals nach Oregon, wo sich die Künstlerin Lizzy, verkörpert einmal mehr von Reichardt-Muse Michelle Williams (Certain Women, Manchester by the Sea), in einer Kleinstadt zwischen Künstlerambitionen und alltäglicher Misogynie im Büro bewegt. Auf einzigartige Weise manövriert Reichardt den Spagat zwischen Lächerlichkeit und Warmherzigkeit und nimmt uns für eine von der Hauskatze attackierte Taube ein, die, die Flügel einmal in Bandagen gelegt, zum Herzstück der Geschichte avanciert. Kam First Cow angesichts des Settings und der Zeit, in der Reichardt es positionierte, bisweilen zu wohlig daher, so ist es ihr hoch anzurechnen, dass Showing Up dank der geerdeten Inszenierung zu keiner Zeit droht, in bloßes Wohlfühlkino abzugleiten.
6: Eo
Jerzy Skolomoskis Eselfilm mit dem onomatopoietischen Titel EO ist ebenso Hommage wie Update des Bressons'schen Balthazar, vor allem aber präsentiert uns der 84-jährige Altmeister Skolomowski, 55 Jahre nach seinem Berlinale-Triumph Le Départ, mit seinem anarchischen Trab durch die Gegenwart die Alienperspektive: Wie stellt sich unser Leben, wie wir es heute führen, eigentlich dar aus einer Position jenseits der uns gewohnten Erfahrungswelt? Wie würde jemand Außenstehendes auf unser tägliches Leben blicken. Skolomowski fängt die Antwort auf diese Frage, die selbstredend nur Wahnsinn lauten kann, in unwahrscheinlich energetischen Bildern ein, mit denen er auch im hohen Alter noch viele seiner Kolleg*innen auf die Plätze verweist.
5: Return to Seoul
Eine der großen Überraschungen des diesjährigen Festivals war Davy Chous Retour à Séoul, in dem sich die adoptierte Freddy, ohne, dass sie dies im Voraus geplant hätte, in Séoul wiederfindet. Dankbarerweise verzichtet Chou darauf, die breitgetretenen Pfade altbekannter Adoptionsfilme einzuschlagen, in denen die Protagonistïnnen allzu häufig auf eine essentialistische Weise zu ihren "Wurzeln" zurückgeführt werden sollen. Denn auch wenn seine Protagonistin Freddy (verkörpert von der Künstlerin Schauspieldebütantin Park Ji-min), einmal auf den Gedanken gebracht, ihre leiblichen Eltern ausfindig zu machen, nicht mehr von dieser Idee loskommt, so ergeben sich daraus statt einer Lösung nur neue Probleme. Auf fein beobachtete Weise lotet der französisch-kambodschanische Chou in der Folge das Spannungsverhältnis zwischen seiner sich gleichsam nach Autonomie wie Zugehörigkeit sehnenden jungen Protagonistin aus und schert sich dabei weniger darum, jene in einem positiven Licht darzustellen, als sie auf schmerzhaft präzise Weise in ihrer Komplexität zu erfassen.
4: R.M.N.
Im Grunde hat Christian Mungius R.M.N. alles, was sich ein Palme-Gewinner gern auf die Fahne schreiben würde: Einerseits nimmt er aktuelle EU-spezifische Diskurse zum Thema Einwanderung und Arbeit auf und arbeitet dabei all die Widersprüche an jener Schnittstelle heraus, an der die virtuelle Utopie eines vereinten Europas und ihre reale Manifestation aufeinandertreffen. Gleichzeitig bleibt Mungiu, der 2007 für sein Abtreibungsdrama 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage die Goldene Palme erhielt und damit seinen Status als einer der wichtigen Vertreter der rumänischen neuen Welle zementierte, der sozialrealistischen Ästhetik treu. Womöglich die charakteristischste Szene für Mungius Kino findet sich in der Mitte von R.M.N., als in einer langen Plansequenz—nicht unähnlich der Lehrerïnnenkonferenz in Radu Judes Berlinale-Gewinner Bad Luck Banging or Loony Porn—die multiiethnische Gemeinde im rumänischen Siebenburgen darüber diskutiert, ob die drei sri-lankischen Arbeiter in der Brotfabrik der Protagonistin Csilla (Judith State) weiterhin Teil der Gemeinde sein dürfen oder nicht. Xenophobie trifft hier in quasi-rationalisierter Form auf und spiegelt all die Widersprüche der Idee einer nur scheinbar wertebasierten Europäischen Union wider.
3: War Pony
Als Riley Keough 2015 für Andrea Arnolds American Honey vor der Kamera stand, machte sie die Bekanntschaft mit Bill Reddy, Franklin Sioux Bob, zwei Statisten am Set, und fand in beiden nicht nur Freunde, sondern Inspiration für ihr erstes eigenes Filmprojekt, das sie gemeinsam mit ihrer besten Freundin Gina Gammell realisieren würde. Basierend auf Reddys und Bobs Erlebnissen und Erfahrungen in Hinblick auf ihr Leben im indigenen Pine-Ridge-Reservat in South Dakota entwickelten die beiden in der Folge das Drehbuch ein Drehbuch, das sie in einem jahrelangen Prozess wieder und wieder überarbeiteten. Die sozialrealistischen Einflüsse der Zusammenarbeit mit Andrea Arnold sind in Keoughs Slice-of-Life-Drama unübersehbar, wenngleich sich Keoughs, Gammell, Reddy und Bob in ihrem Drehbuch nicht mit der bloßen Slacker-Dramedy begnügen, die sich War Pony über die erste Hälfte seiner Laufzeit anschickt zu sein. Stattdessen entwickelt sie das Konzept einer Poetisierung des Ist-Zustands, wie man sie im Kino Andrea Arnolds, aber auch Sean Bakers, findet, zu einem Kino mit klarer Haltung weiter, das sich als umstürzlerisch versteht. Die Ambiguität, die so kennzeichnend ist für das Werk der beiden letztgenannten Autorenfilmer*innen, reicht, wie es einem Regiedebüt gut zu Gesicht steht, nicht länger aus. Und obgleich Keough und Gammell im letzten Drittel an Subtilität einbüßen, so schadet es ihrem Debüt mitnichten, das sich nun über die Grenzen des Reservats hinauswagt.
2: Aftersun
Binnen kürzester hatte sich auf dem 2022er Film-Festival von Cannes herumgesprochen, dass es sich bei Charlotte Wells‘ Spielfilmdebüt Aftersun um einen ganz heißen Tipp handele, der bei der parallel zum glamourösen Wettbewerb um die goldene Palme stattfindenden Semaine de la Critique uraufgeführt wurde. Im Zentrum des von Barry Jenkins produzierten Dramas steht die Erinnerung Sophies (Celia Rowlson-Hall), die, instigiert durch 20 Jahre alte MiniDV-Videos vom gemeinsamen Urlaub mit ihrem damals noch jungen Vater (gespielt vom überragenden Paul Mescal (Normal People, The Lost Daughter), versucht zu ergründen, wer ihr Vater wirklich gewesen ist, der, wie sie es nur in der Gegenwart wahrlich zu verstehen lernt, während dieses scheinbar sorglosen Zeit unter Depressionen litt. Auf wahrlich poetische Weise erkennt Wells in der Kamera und dem filmisch Festgehaltenen eine Zeitmaschine, dank derer wir Verbindungen in eine uns fremdgewordene Zeit herzustellen vermögen und die es uns erlaubt, zu ergründen, wer wir waren und wer wir sind. Die Art und Weise, wie unsere Realität durch das Kameraauge festgehalten wird, eröffnet uns, wenn auch nur durch die Illusion des Kinos, die Möglichkeit, zu verstehen, wie andere—insbesondere uns nahestehende Personen—auf die uns so häufig entgleitende Realität blicken. Aftersun ist ein Film, den wir noch lang mit uns herumtragen. Ein Film, an den wir nicht nicht zurückblicken werden können, wenn wir das nächste Mal R.E.M.s Losing my Religion hören.
1: Pacifiction
Es fällt nicht leicht, Albert Serras Pacifiction auf einen Punkt zu bringen. Eine Fiktion im Pazifik. So weit, so gut. Doch was genau das heißt, das bleibt bis zum Ende unklar. Es gehe ihm nicht um Ideologien, so Serra in einem Interview im Vorfeld des Festivals. Stattdessen wolle er durch seine Bilder ein Paradies evozieren, bei dem es keinesfalls sicher sei, ob es wirklich existiere. Angesiedelt in Französisch-Polynesien, befindet sich Serras Vision einer Gegenwart auf einer Pazifikinsel auf einem solch schmalen Grat zwischen Ambiguität und Vagheit, sodass Serras Denkanstöße zum Thema Postkolonialismus durchaus beliebig anmuten können. Doch die Art und Weise, wie Serra den unter anderem aus Michael Hanekes La Pianiste bekannten Benoît Magimel als französischen Hochkommissar de Roller zwischen die Interessen verschiedener Parteien positioniert—einerseits die indigenen Menschen und Stämme, die in seinem Nachtclub auf eine solche Art auftreten sollen, wie es sich die vornehmlich weißen Besucher*innen vorstellen, andererseits die französische Marine, deren Voranschicken eines U-Bootes bei allen Ureinwohner*innen insbesondere die Angst vor erneuten nuklearen Tests schürt—zeugt von einer unverkennbaren Handschrift. Mutet Pacifiction zunächst unerwartet narrativ für einen Serra-Film an, so lösen sich im Laufe des Filmes alle erzählerischen Fäden während sich die Geschichte auf spektakuläre wie groteske Weise in dem Wahnsinn der von ihn geschaffenen Welt verliert. Beinah, als habe der Katalane hier sein ganz eigenes Apocalypse Now geschaffen.