42 Filme durfte ich während der 74. Filmfestspiele von Cannes sehen. Hier sind meine zehn Favoriten.
10: In den besten Händen
Was sich anschickte, einer dieser unerträglichen Problemfilme zu werden, stellte sich binnen kürzester Zeit als wahres Comedy-Feuerwerk heraus. In Catherine Corsinis La Fracture fällt Raphaëlle (Valeria Bruni-Tadeschi) beim Versuch, die Beziehung zu ihrer Frau zu retten, unglücklich auf den Arm und bricht sich diesen. Beim Besuch auf der Notfallstation des nächstgelegenen Krankenhauses stellt sich dieses als Pars pro toto einer gespaltenen französischen Nation dar, das, von der Politik im Stich gelassen, allein das mit der Überlastung einhergehende Chaos zu bewältigen versucht, das jede Nacht aufs Neue über Ärzt*innen wie Pfleger*innen hineinbricht.
9: Hit the Road
Das Regiedebüt des Iraners Panah Panahi über eine Familie, die den ältesten Sohn durch die Wüste fährt, um – ja, was eigentlich zu tun? – von diesem unter mysteriösen Umständen Abschied zu nehmen, flog in der Directors‘-Fortnight-Sektion gänzlich unter dem Radar während des diesjährigen Festivals von Cannes, was gemessen an der schieren Anzahl an Filmen dieses Jahrgangs zwar verständlich, aber gleichwohl bedauerlich ist. Hört man nur von der Prämisse des Films, mag Panahis Erstling wie ein herkömmlicher Road-Movie daherkommen, doch der trockene Humor und die inszenatorische Stilsicherheit lassen solche Gedanken noch während der ersten Minuten verschwinden.
8: Der Schlimmste Mensch der Welt
Joachim Trier hat bereits in Louder than Bombs bewiesen, wie nah er in seinen Filmen dem Lesen eines Romans kommen kann. Auf ausgesprochen einfallsreiche Weise erzählt er mit den mannigfaltigen Mitteln des Kinos eine bezaubernde Coming-of-Age-Geschichte, die in ihrem Gespür für Beziehungsverflechtungen an einen Sally-Rooney-Roman erinnert und ihrer Hauptdarstellerin Renate Reinsve zum Durchbruch verhelfen wird. Wetten?
7: A Hero - Die verlorene Ehre des Herrn Soltani
Asghar Farhadi ist nach dem bestenfalls gemischt aufgenommenen Everybody Knows nun wieder in den Iran, seine Heimat, zurückgekehrt, und präsentiert mit A Hero ein überaus packendes Drama, in dem ein Gefängnisinsasse während seiner zwei Tage Ausgang versucht, die Schulden, wegen derer er überhaupt erst hinter Gittern musste, abzuzahlen. Doch nichts verläuft nach Plan, und jede Abbiegung führt ein neues Schlamassel herbei, das sich immer weniger weggrinsen lässt, sosehr unser Held es auch versucht. Doch was ist eigentlich ein Held?
6: Titane
Fast bevor sie überhaupt richtig losgelegt hat, hat Julia Ducournau nun also mit ihrem erst zweiten Kinofilm die goldene Palme von Cannes gewonnen. Der nicht immer gesunde, aber gleichwohl faszinierende Hunger, der ihre Filme auszeichnet, dürfte auch der jungen Pariserin nicht fremd sein. Man darf gespannt sein, inwiefern der US-amerikanische Vertriebsdeal mit Neon und der Gewinn der goldenen Palme zukünftige Projekte noch beflügeln kann.
5: Drive My Car
Es ist kaum zu glauben, aber Ryusuke Hamaguchi hat dieses Jahr mit Wheel of Fortune and Fantasy bei der Berlinale und nun Drive My Car in Cannes binnen weniger Monate zwei außergewöhnlich gute Filme präsentiert. Macht Hamaguchi auch nur annähernd so weiter, wird man ihn bald auf eine Stufe mit dem großen Hirokazu Kore-eda (Shoplifters) heben.
4: Aheds Knie
Nadav Lapid ist wütend. Wütend über den zunehmenden Rechtsruck in seiner Heimat Israel und wütend über die zunehmende Zensur und intellektuelle Verwahrlosung innerhalb der kulturellen Institutionen. Diese Wut steht ihm äußerst gut zu Gesicht und überträgt sich mit den unruhigen, pulsierenden Bewegungen seines Kameramanns Shai Goldman in jedem Moment auf die Zuschauer*innen.
3: The Souvenir: Part II
Joanna Hogg ist mit ihrem Zweiteiler The Souvenir: Part 1 und Part 2 ein großer Wurf gelungen, der für die britische Filmemacherin gleichsam therapeutisch gewesen sein dürfte, wie es uns einlädt, über die Beschaffenheit unserer Beziehungen nachzudenken und darüber, wie wir uns derer erinnern.
2: Red Rocket
Es gibt derzeit wohl kaum einen anderen US-amerikanischen Regisseur, der sich in seinen Filmen dermaßen für die Zurückgelassenen seines Landes interessiert und sich mit diesen solidarisch zeigt wie Sean Baker (The Florida Project). In einer Vorstadt von Texas spielt erzählt er von einem ehemaligen und preisgekrönten Pornodarsteller, der, ganz unten angekommen, es noch einmal nach oben schaffen möchte. Doch wie schon in Starlet oder The Florida Project sind die Träume größer als das Hier und Jetzt.
1: Memoria
Einmal mehr hypnotisiert uns der Thailänder und frühere Palm-d’Or-Gewinner Apichatpong Weerasethakul (Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben) in einen tranceartigen Zustand, den er immer wieder durch einen geschickten Knall zu stören weiß. Slow-Cinema at its finest!