6.8

MB-Kritik

Xiao Mei 2018

Mystery

6.8

Yiwen Chen
Liu Kuan-ting
Na-Dou Lin
Chien-He Wu
Ivy Yin
Shao-Huai Chang
Ko Shu-Chin

Inhalt

Die quälende Anwesenheit der Abwesenheit: Das kleine Ladenmädchen Xiao Mei verschwindet plötzlich ohne Erklärung und radikal spurlos aus ihrem gewohnten Lebenszusammenhang. Hat es sich aufgelöst oder gar selbst erlöst? Die Leerstelle, die die vermeintlich unbedeutende junge Frau hinterlässt, wollen nun neun Personen aus ihrem näheren Umfeld füllen. In einem Kaleidoskop aus mäandernden Erinnerungen, Projektionen, Konfessionen, Auslegungen, Beschwörungen und hilflosen Spekulationen, durch das die Entflohene irrlichtert, versuchen sie, das Rätsel um ihr Verschwinden zu lösen. Wie wohl kein anderes künstlerisches Medium ist der Film geeignet, die Wirkung der subjektiven Wahrnehmung auf die Erinnerung zu verbildlichen. Regisseur Maren Hwang jongliert raffiniert und virtuos mit Versatzstücken des Film Noir, Suspense-Elementen und Whodunit bei seiner Erforschung des Rätsels der Identität, der Interpretation von Welt und Mitmensch und der jeweiligen Konstruktion dessen, was gemeinhin „objektive Realität“ und „Wahrheit“ genannt wird. Das kann zwangsläufig zu keiner tröstlichen Lösung führen – es bleibt nur die haltlose Suchbewegung ins weiße Licht der Unendlichkeit.

Kritik

Manchmal schien es, als würde sie weg driften, sagt Xiao Meis Halbbruder (Na Dow). Oft war sie mit den Gedanken woanders, sagt die Ladenbesitzerin (Yin Shin), deren Angestellte das Mädchen aus der Provinz war. Sie würde tagelang nicht auftauchen, berichtet ihr Vermieter (Chen Yi-Wen). Die ungreifbare Hauptfigur von Maren Hwangs Spielfilmdebüt war schon nicht mehr da, als ihr Umfeld sie noch wahrnahm. Es scheint nur konsequent, dass Xiao Mei (Jao Cincin) schließlich auch körperlich verschwindet. Niemand weiß, was mit ihr geschehen ist. Niemand fragt danach. Außer dem unsichtbaren Interviewer, vor dessen Kamera neun Personen ihre Erinnerungen an die abwesende Titelfigur mitteilen. Die Anekdoten enthüllen Bruchstücke eines kaputten Lebens, dessen Schemen durch das beklemmende Mystery-Drama geistert.

Mosaikartig fügen sich die Erzählungen der engeren und flüchtigen Bekannten zu einer diffusen Biografie, die Chronik einer schleichenden psychischen und sozialen Desintegration ist. Überall schien das Mädchen aus der Provinz nach Halt zu suchen, um nicht von dem Abgrund in ihrem Geist verschlungen zu werden. Doch die Menschen, nach denen sie die Hand ausstreckt, sind immer die Falschen. Manche suchen selbst verzweifelt Stabilität und können niemand anderes stützen, wie der Kindheitsfreund (Wu Chien-Ho), mit dem Xiao Mei erstmals Drogen nahm. Andere wollen ihre Verletzlichkeit ausnutzen wie der Manager (Laurence Chiu), bei dessen Firma sie sich bewirbt. Alle spüren, dass es ihr schlecht geht, dass etwas schrecklich schief läuft. Aber niemand will es wirklich wissen. Niemand will die Verantwortung.

Manche Gesprächspartner weisen sie brüsk von sich, andere blicken mit stillen Schuldgefühlen auf die Szenerie, in der die Verschwundene gleich einer Erinnerungsprojektion auftaucht. Sie selbst spricht kaum, weder mit ihren Bekannten noch den Mystikern, die ihr Qi beschwören wollen. „Es gibt viele Arten von Geistern“, sagt einer. Die Protagonistin ist einer davon. Ihre Persönlichkeit löst sich im Drogenrausch auf, ihr unstetes Leben fällt unaufhaltsam auseinander. In diesem Stadium der Zerrüttung manifestieren sich ihre unterdrückten Emotionen als neue Freunde. Sie sind mehr als Wahnvorstellungen einer Süchtigen: Personifizierung von Xiao Meis Qual, deren sich ihre Mitmenschen zu spät bewusst werden. Der Schmerz überdauert und keiner von ihnen wird ihn je abschütteln können, genau wie den Schatten Xiao Meis.

Fazit

In seinem elegant zwischen Epitaph und Mystery-Krimi mäanderndem Kinodebüt findet Maren Hwang emphatische Bilder für das schmerzliche Entgleiten einer fragile Persönlichkeit. Seine von einer exzellenten Hauptdarstellerin getragene Episodengeschichte kreist um die gespenstische Leere, die bleibt, wenn Menschen unvermittelt verschwinden, und die unheimliche Präsenz von Dingen, die das Totschweigen nur lebendiger macht.

Autor: Lida Bach
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