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In den imposanten Bergen Kappadokiens betreibt der ehemalige Schauspieler Aydin ein kleines Hotel, in dem er mit seiner deutlich jüngeren Frau Nihal und seiner gerade geschiedenen Schwester Necla wohnt. Nebenbei vermietet er im Dorf diverse Häuser. Die Drecksarbeit übernimmt für ihn der Hausmeister Hidayet, denn Aydin hat Besseres zu tun. Er schreibt belehrende Kolumnen für eine Regionalzeitung und arbeitet an einem Buch über die Geschichte des türkischen Theaters.
Kritik
Wir alle greifen gerne zum Fast Food. Es ist lecker, schnell ist es da, gegessen und schon wieder vergessen. Doch wie seelenlos ein Long Chicken-Menü vom Burger King wirklich ist, merkt man wohl erst, wenn man in ein richtiges Restaurant geht und sich von einem Gourmet-Koch bedienen lässt. Wie kurzweilig und „egal“ die heutigen Hollywood-Blockbuster wahrlich sind, wird einem ebenso erst dann bewusst, wenn man einen Film wie „Leviathan“ von Regisseur Andrey Zvyagintsev oder „Winterschlaf“ von Nuri Bilge Ceylan zu sehen bekommt. Monumentale Charakterstudien, die in ihrer Inszenierung und ihrem Dialog eher einem visuellen Roman ähneln, als einem Film. Mit einer ruhigen, fast schon ereignislosen Atmosphäre und einer gigantischen Dialogdichte ist das Autorenkino gewiss nichts für jedermann, doch sind es letztendlich diese Filme des Arthouse, die dem Kino mehr Tiefe verleihen.
Protagonist Aydin (dargestellt von Schauspiel-Veteran Haluk Bilginer) ist ein pensionierter, erfolgloser Theaterdarsteller, der im anatolischen Kappadokien ein kleines Gasthaus, das Hotel Othello, betreibt. Von Aydins Bildung und Kultiviertheit zeugen Bilder und Plakate von Camus und Omar Sharif, seine Tätigkeit als Kolumnenschreiber für die lokale Zeitung und das Buch über die Geschichte des türkischen Theaters, das er schreiben möchte, aber mit der Ausrede Recherche zu betreiben, aufschiebt. Aydin sieht sich für progressiven Philosophen und gutmütigen Humanisten, doch wissen es die beiden Frauen in seinem Leben - seine sehr viel jüngere Frau Nihal (Melisa Sözen) und Schwester Necla (Demet Akbag) - besser. Als eines Tages ein Junge einen Stein gegen Aydins Autofenster schleudert, wird eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, die die wichtigsten Ideen des alternden Künstlers über seine Prinzipien und seinen moralischen Code in Frage stellen.
Aydin glaubt rechtschaffen und gnädig zu sein, ist es jedoch gewohnt diese Tugenden, den Menschen, die von ihm abhängig sind, unter die Nase zu reiben. Wie ein König herrscht Aydin von seinem ins Stein gehauene Hotel über sein kleines Mikrokosmos aus Armut und glaubt bei seinem Volk aufgrund seiner Güte auf Liebe zu stoßen, wenn alle ihn im Grunde verabscheuen. Gegenüber dem Imam Hamdi (Serhat Kilic), der als einziger bemüht ist Aydin zu gefallen, entwickelt der ehemalige Schauspieler einen Hass und fällt über ihn sogar in einer seiner Kolumnen her. Aydin ist ein ehemaliger erfolgloser Darsteller, der das ihm vererbte Imperium des Vaters regiert, ein selbstgerechter, zynischer Bully, der die Ideen und Träume anderer mit einem nervigen Lächeln abweist, sich dennoch zu den guten und fairen zählt.
Mit seiner sehr viel jüngeren, entfremdeten Ehefrau Nihal (Melisa Sözen) teilt er kein gemeinsames Zimmer, die um nicht in der erdrückenden Leere zu ersticken versucht ihre ereignislosen Tage mit etwas Sinnvollem zu füllen. Sie baut eine Wohltätigkeitsorganisation auf um die Schulen in der Umgebung zu fördern und versucht sich mit einem Thema zu beschäftigen, zu dem Aydin bisher nicht das kleinste Interesse zeigte. Sechs Jahre zuvor verschloss er den Opfern eines Erdbebens in der Region die Türen seines Hotels und macht sich sofort daran, das einzige was sich Nihal aufzubauen versucht aufgrund ihrer angeblich nicht vorhandenen Erfahrungen in der Buchhaltung aus den Händen zu reißen. Er wolle schließlich nur “helfen”. Mit seinen Mietern beschäftige sich Aydin lieber gar nicht und überlasse dies seinem Assistenten Hidayet und seinen Anwälten, weil er von solchen Geschäften nichts verstehe. Doch als Nihal ihre Spenden sammeln möchte, hebt Aydin wieder einmal seinen belehrenden Finger und kritisiert ihre mangelnde Erfahrung und reißt das Projekt an sich … einfach nur weil er es kann.
Aydins geschiedene Schwester Necla (Demet Akbag) wohnt ebenso im Hotel und vegetiert den ganzen Tag nichtstuend vor sich hin. Sie vermisst die vielfältige Großstadt-Atmosphäre Istanbuls und kommt mit der ruhigen Lebensweise im Dorf nicht klar. Sie denkt daran zu ihrem Ex-Mann zurückzugehen und sich zu entschuldigen, obwohl er im Unrecht war. Und sei es auch nur damit sie dieser öden Hölle entkommen kann.
Und obwohl sowohl Nihal als auch Necla unzufrieden und unglücklich sind im weiträumig-leeren Anatolien und die Stille der Prärie nicht ertragen können, wagen beide es nicht dem Leben alleine entgegenzutreten. Zu viel Angst haben sie einerseits davor unabhängig zu sein und nicht genau zu wissen, was der Morgen bringen wird, verabscheuen andererseits ihre Abhängigkeit von Aydin, der im Gegenzug es vorzieht sich selbst zu belügen. Auch er fürchtet sich vor der Realität.
Als letztendlich der Winter einbricht und die Straßen zum Dorf unpassierbar werden, steigt die Animosität nicht nur gegenüber Aydin, sondern auch zwischen Nihal und Necla selbst. Alle hassen sich gegenseitig. In den Dialogen, die oftmals harmlos beginnen und zu philosophischen, emotional geladenen Debatten eskalieren, schält Nuri Bilge Ceylan Zeile um Zeile die Zwiebeln, die seine Figuren darstellen und präsentiert sie dem Zuschauer. “Winterschlaf” funktioniert auf vielen Ebenen sowohl als äußerst präzise Charakterstudie, als auch als Parallele zur türkischen Gesellschaft. Aydin, Nihal und Necla repräsentieren hierbei mit ihrer Bildung und Kultiviertheit die kemalistischen Ideale einer ehemaligen prä-Erdogan-Türkei, die ihre Prinzipien und den Islam in einem westlichen Weltbild unterbringen, während das Volk um das Hotel Othello die aktuell politisch stärkste Fraktion der Türkei darstellt, welches seit 2003 mit der AKP-Regierung die fortschreitende Islamisierung des Landes vorantreibt. Doch weigert sich Nuri Bilge Ceylan eine der Seiten zu verurteilen und verhindert bewusst die Politisierung seines Films.
Nuri Bilge Ceylan verwendete oftmals zuvor die nahezu trostlose, aber dennoch irgendwie bezaubernde Prärie Anatoliens als Szenenbild in seinen Filmen, doch kommt sie in “Winterschlaf” am besten zur Geltung. Mit wunderschönen Aufnahmen schmeichelt der Regisseur und Drehbuchautor einerseits dem Auge und kontrastiert dies zeitgleich mit der Armut eines durchschnittlichen anatolischen Dorfes, die teilweise in ihrem eigenen Dreck zu ersticken scheinen. Dass der Film fast komplett ohne den Einsatz von Musik auskommt, legt umso größeres Gewicht auf die visuellen Bilder. Das einzige Stück Musik, das zu hören, ist die Piano Sonata Nr. 20 von Franz Schubert, die die Seele des Films perfekt unterstreicht.
Einzig noch zu erwähnen bleibt die schauspielerischen Leistungen des Ensembles, die einen wundern lassen, wieso fast keine türkischen Darsteller in internationalen Produktionen mitspielen. Haluk Bilginer ist zwar in der Türkei einer der größten und besten Darsteller, der regelmäßig (vollkommen zurecht) mit Preisen überhäuft wird, doch ist er auf weltweiter Bühne eher weniger bekannt. Dem einen oder anderen wird er vielleicht im Politthriller “The International” mit Clive Owen und Naomi Watts aufgefallen sein und auch hat er einige Rollen in britischen TV-Serien in den 80ern, als er am britischen Theater beschäftigt war. Der 61-jährige, der auch demnächst im “Ben-Hur”-Remake zu sehen sein wird, legt eine absolute Hammer-Performance hin, die insbesondere mit seiner ruhigen Nuance und Vielschichtigkeit besticht. Auch ist Demet Akbag Meisterin ihres Fachs und zählt wie ihr Kollege Haluk Bilginer in der Türkei zur Schauspiel-Elite und beide stellen gekonnt unter Beweis wieso, wenn sie einen 20-minütigen, spannungsgeladenen Dialog führen und sich keinen einzigen Patzer leisten. Auch leisten die überaus attraktive Melisa Sözen, Nejat Isler und alle weiteren Darsteller überaus fantastische Arbeit und verleihen der Geschichte das nötige emotionale Gewicht.
Fazit
“Winterschlaf” ist mit seinen 196 Minuten der längste Film, der je mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnet wurde, doch schafft es Nuri Bilge Ceylan eine solche spannunsgeladene Atmosphäre zu schaffen und diese den gesamten Film über zu halten, obwohl im Grunde nichts passiert, außer dass Leute reden. Sie reden, und sie reden und reden, wobei das Gesagte gleichzeitig die innere Verkommenheit seiner Charaktere offenbart, der türkischen Gesellschaft urteilslos den Spiegel vorhält und eine nervenzerreißende Aura erschafft. Diese harmoniert hervorragend mit der trostlos-und-doch-wunderschönen Landschaft Anatoliens, sodass einem die dreieinhalb Stunden nur halb so lang vorkommen. “Winterschlaf” ist pures Autorenkino und verlangt dementsprechend die volle Aufmerksamkeit des Zuschauers. Und wer nicht genug Sitzfleisch und/oder Aufmerksamkeitsspanne mitbringt, der wird wohl oder übel eine der tiefgründigsten Charakterstudien des Jahrzehnts verpassen.
Autor: Kadir Güngör