Der derzeitig öfters zu beobachtende Trend, festgefahrene Biopic-Strukturen zu durchdringen und auf ungewöhnliche Mittel zu setzen, um sich einer porträtierten Persönlichkeit anzunähern, ist nun erfreulicherweise auch im deutschen Film angekommen. In Vor der Morgenröte nutzt Regisseurin Maria Schrader (Liebesleben) die Kraft des Kinos und die Stärke skizzierter Verdichtungen, um aus den letzten Jahren im Leben des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig zu erzählen.
Der Prolog des Films, bestechend in einer einzigen statischen Einstellung über knapp zehn Minuten lang gefilmt, setzt 1936 an, wo sich der jüdische Schriftsteller bereits seit Jahren auf der Flucht befindet, da Sicherheit vor den Nationalsozialisten in seiner Heimat längst nicht mehr gegeben war. In ihrem Film begibt sich Schrader somit auf gewagtes Terrain, denn die Epoche, in der die Handlung angesiedelt ist, wurde speziell in deutschen Filmen schon mehr als genug behandelt und die meisten dürften sich mittlerweile an der ewigen Vergangenheitsbewältigung eines extrem dunklen Kapitels der deutschen Geschichte sattgesehen haben. Die Regisseurin wählt hingegen einen mehr als erfreulichen Weg, um die schwerwiegende Tragik, die sich in dieser Zeit ergab, auf ihre Hauptfigur zu übertragen und innerste Gefühle von Zweig, die logischerweise untrennbar mit dem Nationalsozialismus verbunden sind, zum Vorschein zu bringen.
In vier Kapiteln, die um einem Pro- sowie Epilog ergänzt werden, schildert Vor der Morgenröte auf sprunghaft-episodische Weise einzelne Stationen in verschiedenen Ländern, in denen sich Zweig zeitweise aufhielt. Indem sich der Film an unaufgeregten Situationen orientiert, die den Charakter des mit sich selbst hadernden Schriftstellers auf gänzlich unpathetische Weise einfangen, entwirft die Regisseurin Stück für Stück das Bild eines geplagten Künstlers, der sich selbst an den exotischsten Plätzen der Welt fremd fühlt, nicht weiß, wo er jemals eine Heimat finden kann und wie er sich damit abfinden soll, dass es um ihn so gut bestellt ist, während Freunde und Kollegen in Deutschland großen Schrecken ausgesetzt sind. Wenn Zweig darüber spricht, wie glücklich ihn die Zustände in Ländern wie Brasilien machen, in denen unterschiedlichste Völker im Einklang miteinander leben und dass er sich zukünftig ein positives Europa vorstellt, in dem Grenzen und Pässe nicht mehr nötig seien, schlägt Vor der Morgenröte außerdem einen aktuell relevanten Bogen in unsere Gegenwart, in dem die Flüchtlingskrise längst nicht gelöst ist und der Nachgeschmack des tatsächlich Wirklichkeit gewordenen Brexits immer noch ein bitterer ist.
Neben der besonderen Szenengestaltung, für die Kameramann Wolfgang Thaler betörende Bilder einfing, welche von Hansjörg Weissbrich künstlerisch erhaben montiert wurden, lebt dieser Film vor allem durch seinen grandiosen Hauptdarsteller. Der Kabarettist Josef Hader (Aufschneider), den man als Schauspieler in erster Linie aus knochentrockenen, schwarzhumorigen Produktionen kennt, verkörpert Zweig mit einer unglaublich eindringlichen Melancholie, durch die er ihn ebenso zum eloquenten, wortgewandten Künstler wie zum undurchschaubaren, gequälten Mysterium macht.
Immer wieder setzt Schrader auf überraschende Aussparungen und großzügige Leerstellen in der Erzählung, die offen lassen, inwieweit der Schriftsteller gerechtfertigt handelt und womöglich sogar selbst stellenweise zu Recht zu verurteilen ist. Vor der Morgenröte ist in dieser Hinsicht jedenfalls ein ungemein reifes Biopic, das mit pointierten Dialogen, impressionistischen Bilderbögen und einer gänsehautreifen Mimik des Hauptdarstellers einen Einblick in eine reale Persönlichkeit gewährt, bei der auch all diejenigen, die im Voraus wenig über Stefan Zweig wussten, gleichermaßen erhellt sowie zufriedengestellt verbleiben werden und nicht mit dem Gefühl, im Wikipedia-Artikel weiterlesen zu müssen. Trotz offener Fragen und zwiespältiger Eindrücke wirkt der Film am Ende in sich geschlossen und reich an Substanz.