Inhalt
Marleen erlebt ihren Alltag als steilen Berg - unerklimmbar! Mit Anfang 20 ist sie nicht einmal in der Lage, sich für ein Studienfach zu entscheiden. Selbst ihr geliebter großer Bruder schafft es nicht, sie aus ihrem Dauer-Formtief herauszuholen. Erst durch eine persönliche Katastrophe wird die menschenscheue Marleen so aufgerüttelt, dass sie sich Hals über Kopf auf ein Abenteuer einlässt, das etliche Nummern zu groß für sie ist: Im Hamburger Hafen wartet ein Schiff auf sie, mit dem sie in die Antarktis reisen will. Doch wie soll sie quer durchs Land nach Hamburg kommen, wenn sie nur acht Euro in der Tasche hat? Das ist der Beginn einer emotionalen Reise, auf der Marleen erfährt, dass es durchaus noch verrücktere Zeitgenossen gibt als sie selbst. Und sie macht die überraschende Erfahrung: Je weiter sie reist, desto näher kommt sie sich selbst.
Kritik
Weil sie sich immer noch nicht darüber im Klaren ist, welchen Studiengang sie denn nun eigentlich belegen soll und weil sie ihrem Umfeld gegenüber ohnehin viel zu negativ eingestellt ist, bekommt Marleen (Jella Haase, Fack ju Göhte-Trilogie) von ihrem großen Bruder Erik (Matthias Schweighöfer, Vaterfreuden) ein Einmachglas geschenkt, welches sie von nun an mit Zetteln füllen soll, auf denen sie ihre erlebten Abenteuer verschriftlicht hat. Und weil sie ganz besonders viel erleben soll, ist es eben kein Ein-, sondern ein Vielmachglas. Dass Erik, ein waschechter Weltenbummler mit Rastazöpfen, afrikanischen Tattoos und ständig mit einer spannenden Geschichte auf den Lippen, leicht reden hat, ist bei seinem Lebensstil kein Wunder: Gestern noch in Namibia, morgen schon in Costa Rica. Wie soll Marleen da mithalten?
Nicht einmal 15 Minuten vergehen, bis Vielmachglas den Grundstein für die Probleme gelegt hat, auf die Regisseur Florian Ross und sein Drehbuchautor Finn C. Stroeks nun für den Rest der Laufzeit konsequent aufbauen werden. Denn nachdem Erik bei einem Autounfall überraschend den Tod findet, sieht sich Marleen erst recht dazu genötigt, mit ihrem Vielmachglas in die Welt hinauszuziehen und sich einer identitätsstiftenden Odyssee hinzugeben – so wie es sich ihr Bruder gewünscht hätte. An diesem vordergründig tröstlichen Gedanken exemplifiziert sich jedoch eine Krankheit des deutschen (Mainstream-)Kinos, die es ihren Akteuren konsequent verweigern möchte, sich mit ihrer Trauer auseinanderzusetzen. Es wäre in Ordnung gewesen, wenn Marleen ihrem Bruder eine letzte Freude machen wollen würde, der Film allerdings muss sie darin nicht auf Biegen und Brechen unterstützen.
Die Reise, die Marleen antritt, ist natürlich nur im ersten Moment dafür da, damit sie ihrem Bruder die Ehre erweist, stattdessen geht es Vielmachglas vielmehr darum, das Mädchen von ihrem Verlustschmerz zu lösen, weil man daraus kein unterhaltsames Filmprogramm fabrizieren kann. Unterlegt mit dem momentan angesagtesten Indie-Soundtrack lässt sich Marleen sodann von Bekanntschaft zu Bekanntschaft treiben, von Episode zu Episode, von Station zu Station, nicht, um sich dem Wesen der Trauer auf ihrer Art und Weise zu widmen, sondern, um endlich etwas erzählen zu können. Die tollen, mit ganz vielen Glückskeksweisheiten und überstrapaziertem Zuckerguss ausgestopften Abenteuer, die Marleen erlebt, sind erst möglich, weil Erik gestorben ist. Darüber aber macht sich Florian Ross keine Gedanken. Warum auch? Die Glühwürmchen schweben doch gerade wieder so schön über das dichte Gras.
Vor der Folie berühmter Coming-of-Age-Filme, die sich auch immer als Initiation ihrer Protagonisten begriffen, schafft es Vielmachglas zwar, mit Jella Haase eine nicht unbedingt uninteressante Besetzung für die durch den Alltag strauchelnde Marleen zu finden. Wenn diese aber immer wieder dazu genötigt wird, unter nachdenklich-schwermütigen Piano-Klängen ihren Blick gen Boden zu richten, dann wünscht man der talentierten Haase einen besseren Regisseur (und ein besseres Drehbuch). Was sich hier als authentischer Versuch einer jungen Frau abmühen möchte, Meilensteine zu sammeln, ist letzten Endes nur die verklebt-formelhafte Vorstellung weltfremder Alltagspoesie, die sich in Köpfen 13-Jähriger Mädchen zusammenbraut, die immer mit dem Zufall rechnen dürfen und tatsächlich der Annahme erlegen sind, dass Abenteuer auf einen Schnipsel Papier passen.
Fazit
"Vielmachglas" möchte sich in die Tradition arrivierter Coming-of-Age-Filme stellen, die die Reise ihrer Protagonisten vor allem als identitätsstiftende Initiation begreifen. Herausgekommen allerdings ist dabei ein vor allem feiger Film, der sich davor sträubt, sich mit der Gefühlswelt seiner Hauptfigur vertraut zu machen und stetig die Ablenkung anstatt die Konfrontation sucht. Verzuckertes, oberflächliches, formelhaftes (Selbstfindungs-)Kino.
Autor: Pascal Reis