Das Urteil von Nürnberg zählt zu dieser ganz speziellen, ehrfurchterregenden Sorte von Film, die sich allein durch Gesichter und Worte zu vermitteln versteht. Über weite Strecken der mehr als dreistündigen Laufzeit setzt sich die erhabene Kamera von Ernest Lazlo in den Fronten der Ankläger und Angeklagten fest und geht auf eine Art anthropologischer Erkundungstour durch die physiognomischen Landschaften der involvierten Personen, um herauszufinden, was der Mensch nach außen hin präsentiert, um sein Inneres zu verschleiern. Und da haben wir das elementare Parademotiv, mit dem sich Stanley Kramer (Rat mal, wer zum Essen kommt) auch in Das Urteil von Nürnberg grundlegend beschäftigt: Was zeigen wir der Außenwelt, was aber offenbaren wir, wenn wir unser Innenleben entblättern würden? In Bezug auf die Nürnberger Juristenprozesse, die sich bis in den Dezember des Jahres 1947 erstreckten, ist diese Fragestellung natürlich ein Ansatz von gewichtiger Beschaffenheit.
Gewichtig, weil Stanley Kramer diesen Ansatz nicht nur wortwörtlich anzugehen versucht, sondern, weil er ihn variiert und die dichotomischen Konstellationen, die sich aus diesem Fragekonstrukt ergeben, gewissenhaft durchexerziert. Im Prinzip könnte man sagen, Das Urteil von Nürnberg besteht durchweg aus streng forcierten Gegenüberstellungen, die nicht nur die bereits erwähnten Ankläger und Angeklagten per se betreffen, sondern den umfassenden Blick auf das Rechtssystem und sein Fundament: Jeder scheint hier einen anderen Standpunkt dahingehend zu pflegen, wie Gerechtigkeit auszusehen hat und wie man ihre – jedenfalls formell – abgesteckten Grenzen erhalten kann. Mit Adolf Hitlers Machtergreifung im Jahre 1933 allerdings wurde der Ethos des Justizsystems untergraben und vergewaltigt, um ein regelrechtes Zerrbild der Rechtsstaatlichkeit aus dem Boden zu stampfen, welches für den Imperialismus des dritten Reiches natürlich einen äußerst ergiebigen Nährboden darstellte.
Adolf Hitler und seine Vasallen jedoch sind tot oder geflüchtet, die Ärzte, Juristen und Geschäftsleute, die unter der Hakenkreuzflagge tätig waren, allerdings hat es auf die Anklagebank verschlagen. Das Urteil von Nürnberg bemüht sich mit Erfolg um eine differenzierte Herangehensweise an diese verschiedenen Parteien und versucht herauszufinden, wie explizit sich Schuld und Verantwortung unter der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten verbinden lassen, während die Trümmer außerhalb des Gerichtsaals Tag und Nacht das Scheitern jedweder Menschlichkeit beweinen. Aber Menschlichkeit? Hat diese so bedeutungsvolle Vokabel im Klammergriff der braunen Ideologie überhaupt einen Stellenwert genossen? Musste man sich nicht letztlich gerade dieser entledigen, um eine Chance zu haben, sein Leben zu retten? Das Urteil von Nürnberg findet sich in einem Mittelweg zwischen Ohnmacht und Verständnis wieder, veranschaulicht aber ganz entschieden, dass ein Verbrechen immer ein Verbrechen bleibt – gerade dann, wenn man sich seiner Taten vollkommen im Klaren war.
Stanley Kramer, der nur ein Jahr zuvor mit Wer den Wind sät bereits einen durchaus beeindruckenden Vertreter des Gerichtsfilms ablieferte, hat mit Das Urteil von Nürnberg zweifelsohne eines der wohl wichtigsten Beiträge der Filmgeschichte geschaffen: Zusammengefecht in einem Saal nimmt sich Kramer die Zeit, um jedwede Position und Auffassung auf ihre Stichhaltigkeit abzutasten. Herausgekommen ist dabei nicht nur ein empathisch-eindringliches gespieltes Monument des 1960er Jahre Kinos (bei dieser unglaublichen Besetzung ist das kein Wunder), sondern auch ein Mahnmal, dessen Relevanz von überzeitlicher Durchschlagskraft bis in alle Ewigkeit von Belang scheint. Gerechtigkeit ist mehr als nur der äußere Vorgang der Rechtsprechung, es ist der innere Kompass, der kein nationales, sondern ein internationales Wertesystem begründet und das gesellschaftliche Miteinander auf rechtschaffenen Stützpfeilern verankert. Und um diese Auffassung zu wahren und in Ehren zu halten, lohnt es sich, so manches verbales Wortgefecht weit über die Grenzen der Erschöpfung auszutragen.