Inhalt
Niemand mag den Lehrer Paul Hunham (Paul Giamatti) – weder seine Schüler noch seine Kollegen, noch der Schulleiter. Alle finden seine Aufgeblasenheit und Starrheit nervtötend. Da er keine Familie hat und in den Weihnachtsferien 1970 nirgendwo hingehen kann, bleibt Paul trotzdem in der Schule, um die Schüler zu beaufsichtigen, die nicht nach Hause fahren können. Nach ein paar Tagen ist nur noch ein Schüler übrig, ein 15-Jähriger namens Angus (Dominic Sessa), ein guter Schüler, der wegen seines schlechten Benehmens jedoch immer von der Schule zu fliegen droht. Zu Paul und Angus gesellt sich die Chefköchin Mary (Da'Vine Joy Randolph) – eine afroamerikanische Frau, die sich um die Söhne von Privilegierten kümmert und deren eigener Sohn kürzlich im Vietnamkrieg gefallen ist. Diese drei sehr unterschiedlichen Schiffbrüchigen bilden eine unwahrscheinliche Weihnachtsfamilie, die während zwei sehr verschneiten Wochen in Neuengland komische Missgeschicke erlebt.
Kritik
Die Sehnsucht hinter dem Begriff Nostalgie lässt sich mit der Floskel „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?“ relativ gut zusammenfassen: Während im Jahr 2024 die Welt immer fort zu brennen scheint sehnt man sich in die behütete Atmosphäre eines besinnlichen Weihnachtsfests aus Kindertagen zurück, bei der einen zusammen mit Geschenken unter dem geschmückten Baum die Schneelandschaft aus dem Fenster des wohlgeheizten Hause begrüßt, ein sinnliches Bild welches uns Alexander Paynes (The Descendants, Nebraska) The Holdovers bereits in der Eröffnungsszene, in der uns ein Weihnachtschor mit einem melancholischen Lied zur sanft überblendenden Montage des verschneiten Campus der Barton Academy einlullt, präsentiert. Manch anderer sehnt sich im Angesicht der gegenwärtigen pompösen Überwältigung-Blockbuster und IP-Mania nach einem Kino der 1970er zurück, in welchem ernste, bodenständige Charakterdramen die Leinwände füllten. Auch diese nostalgische Verklärung bedient Paynes Film, denn dieser ist nicht nur durch dessen höchst immersiven Retrolook, vollständig mit gefakten Filmkorn, 55mm Linse, gemalten Studiologos (inklusive neu erfundenen Logos zu Focus Features und Miramax, beides Firmen, die zur erzählten Zeit des Filmes 1970 noch nicht existierten) und sogar eines leicht verkratzen Tonabmischung im Mono,- statt Stereoformat, ein Film vergangener Tage. Das Herz dieses Weihnachtsfilmes klafft nach der Zusammenkunft von drei Außenseitern, die im Angesicht einer überkonformen Gesellschaft ihr eigenes Glück finden müssen. Eine Geschichte, die nie wirklich neu war, aber zum Glück auch nie alt zu werden scheint.
Die titelgebenden „Holdovers“ („Überbleibsel“) sind im engsten Sinne ein Trio dreier Internatsbeschäftigter, für die sich während der Feiertage kein Platz finden lässt und nun den eisigen Winter des Jahres 1970 an der Barton Academy ausharren müssen. Davon, ein Überbleibsel einer vergangenen Epoche zu sein, müsste allen voran der grummelige Mr Hunham (Paul Giamatti, Barneys Version) etwas verstehen, beschäftigt er sich als Geschichtslehrer mit Cicero-Weisheiten und anderen antiquierten Fakten um seine Studierenden dann genüsslich durchfallen zu lassen. Bis er es schließlich zu weit treibt: Nachdem er den Sohn eines der Hauptsponsoren des Internats seinen Kurs nicht bestehen lies und ihn damit dessen Stipendium kostete gilt Hunham auch bei seinen Lehrerkollegen als unbeliebt und wird kurzerhand zum Babysitten über die Weihnachtsferien zurückgelassener Studierender verdonnert. Zwar sucht von denen einer nach dem anderen das Weite, doch einer bleibt schließlich zurück: Angus Tully (Dominic Sessa), ein unglücklich-aggressiver Halbstarker, dessen Weihnachtsfest den Flitterwochen von Mutter und Stiefvater weichen musste und der keine Lust auf Hunham’s autoritäre Spiele hat. Als letzte im Bund ist da die Chefköchin Mary Lamb (Da’Vine Joy Randolph, The Lost City), welche die Zankereien zwischen Angus und Hunham stillschweigend, zynisch kommentiert und abends mit letzterem vor dem Fernseher sinniert. Anders als Hunham, und wohl noch extremer als Angus, trägt Mary ihre Wunden nach außen: Sie trauert um ihren, im Vietnam-Krieg gefallenen, Sohn.
Wer jemals zuvor einen Film gesehen hat, der wird ahnen das dieses ungleiche Trio über die Laufzeit des Filmes und gemeinsam erlebte Abenteuer vielleicht enger zusammenwachsen wird, als sie es sich je hätten vorstellen können. Die oft beschworene Predigt von Zusammenhalt und Nächstenliebe entspricht nicht nur in der Tradition zahlreicher Weihnachtsfilme, sondern auch in Hunhams Cicero-Zitat: „Not Noli Solum Nati Somus“ („Nicht für uns alleine hat man uns geboren“). The Holdovers findet dementsprechend seine erzählerischen Stärken nicht in unerwarteten Wendungen oder Überraschungen. Was Paynes Film so erfrischend macht, ist dessen sanfte Unaufgeregtheit und die Hingabe zu seinem winterlichen Setting, das zu jeder Sekunde einladend wirkt. Ästhetisch gelingt Payne, der selbst in Interviews beteuert, immer noch zu versuchen einen 70er Jahre-Film zu drehen, die Zeitreise rigoros. Ein wiederkehrender inszenatorischer Effekt ist der einer langsamen Überblendung: Der Dialog aus der nächsten Szene beginnt bereits, während die Bildebene noch in der Vorangegangenen kurz stockt, ehe sie sich in die nächste Szene auflöst. Der Effekt fasst die Gesamtwirkung des Filmes gut zusammen: Sanft gleitend wird uns früh enthüllt, wohin uns das Szenario führt, uns aber gleichzeitig ein stagnierender Moment geschenkt in dem alles kurz für sich stehen darf, ganz im Zeichen der besinnlichen Zeit zwischen den Jahren, in denen sich Paynes Außenseiter, die hier anders als in Sideways oder About Schmidt nicht erst die große Reise dafür antreten müssen (wenn auch im dritten Akt ein Kurzausflug nach Boston ansteht) selbst finden dürfen. Gleichzeitig erschafft der Überblendungseffekt einen unfertigen Moment, der ebenso den Gemütszustand seiner Protagonisten wiedergibt.
In The Holdovers komplettieren sich jedoch nicht nur drei vom Leben fragmentierte Persönlichkeiten, der Film ist mehr eine Liebeserklärung an die Zuversicht und den Halt, den eben nur verletzte Menschen einander geben können. Was Angus und Mr. Hunham eint ist zunächst der gemeinsame und gegenseitige Hang zum Lügen: Während Angus nach einem Unfall Mr. Hunham als seinen Vater ausgibt, um Schwierigkeiten zu vermeiden, nimmt er den Kernaspekt ihrer wachsenden Solidarität bereits vorweg. Als beide später auf einen alten arroganten Kommilitonen aus Hunhams Jugendzeit treffen, gibt er vor, es viel weiter geschafft zu haben als Barton Academy. Die nötige Illusion, die beide vom Leben Enttäuschte brauchen, wird schließlich durch Solidarität abgelöst, verbunden mit der Erkenntnis, dass niemand wirklich allein ist mit seinen Problemen, eine Weisheit, die so altbackend ist, sodass man sie aber nur einem Film abkaufen kann, der genau diese Antiquiertheit stolz nach außen trägt. Dabei folgt der Film ganz Hunhams Motto: „Geschichte ist nicht nur eine Studie der Vergangenheit, sondern eine Erklärung der Gegenwart.“
Fazit
„The Holdovers“ ist einer der schönsten Weihnachtsfilme aller Zeiten. Nostalgisch ohne jede Verklärung kommt diese Liebeserklärung an Außenseiter und Solidarität mit einer sanften Unaufgeregtheit und einem Gespür für seine Figure daher, dass jeden Zynismus entwaffnet und für eine tief besinnliche Winteratmosphäre sorgt. Ab jetzt jedes Jahr wieder!
Autor: Jakob Jurisch