Inhalt
Gott existiert. Er lebt in Brüssel. Doch das ist leider nur die eine Seite der Medaille. Denn der Allmächtige ist kein weiser Weltenlenker, sondern ein Familienvater, der frustriert im Bademantel durch die Wohnung schlurft und Frau und Tochter Éa tyrannisiert. Ansonsten hockt Gott vor seinem Computer und tüftelt mit diebischer Freude jene dummen, sadistischen Gebote aus, die zu den Fragen führen, die die Menschheit bewegen: Warum fällt der Toast immer auf die Marmeladenseite, und weshalb erwischt man im Supermarkt grundsätzlich die langsamste Schlange an der Kasse? Als wäre das nicht schon schlimm genug, lässt er immer wieder Dampf ab, indem er Naturkatastrophen oder Kriege arrangiert. Irgendwann hat Éa die Nase voll. Höchste Zeit für eine Lektion, findet sie. Und hackt sich in Gottes Computer ein. Die geheimste seiner geheimen Dateien, die Todesdaten aller Menschen, ist schnell geöffnet. Und dann dauert es nur noch ein paar Klicks, bis jeder Mensch auf Erden per SMS erfährt, wie lange er noch zu leben hat. Diese schockierende Botschaft nehmen manche besser auf als andere und plötzlich denken alle Menschen darüber nach, was sie mit der ihnen verbleibenden Zeit anfangen wollen. Éa bricht fluchtartig auf, um auf der Erde sechs neue Apostel zu suchen und ein brandneues Testament zu schreiben. Doch Gott ist der Meinung, dass er inmitten des ganzen Chaos auch noch ein gewaltiges Wort mitzureden hat...
Kritik
Gott (Benoît Poelvoorde, »Nichts zu verzollen«) existiert und wohnt in Brüssel. Seine Frau (Yolande Moreau, »Micmacs«) liebt Baseball und Blümchenstickereien, seine Tochter heißt Éa (Pili Groyne) und ist zehn Jahre alt. Und weil Gott die Tage biertrinkend vor seinem Computer damit verbringt, sich hämisch kichernd fiese Gebote für die Menschen auszudenken (»Immer, wenn du gerade in die Badewanne gestiegen bist, klingelt das Telefon!«), beschließt Éa, dass sich etwas ändern muss. Beraten von ihrem großen Bruder J.C., der als Deko-Figur auf ihrem Schrank steht, fasst sie einen tollkühnen Plan, hackt Gottes Computer und sendet allen Menschen per SMS ihre Todesdaten. Und dann türmt Éa durch die Waschmaschine, um in Brüssel sechs neue Apostel für ein brandneues Testament zu finden — damit es insgesamt achtzehn Apostel sind wie bei einer Baseballmannschaft und nicht nur zwölf wie beim Hockey …
Wer jetzt findet, dass diese Zusammenfassung sich absurd liest: Ja, das ist sie. Wer glaubt, dass sich hinter der kruden Story ein durch und durch klamaukiger Film verbirgt: Nichts weniger als das. »Das brandneue Testament« macht von vorne bis hinten diebischen Spaß, das ja — gleichzeitig werden all die schrägen Einfälle mit einer Liebe zum Detail und einer Poesie erzählt, die einem das Herz wärmt. »Ich habe einfach nur ein Märchen erzählt«, sagt Regisseur Jaco von Dormael. Und das hat er mit einem Charme getan, der typisch für das französischsprachige Kino erscheint und stellenweise an »Die fabelhafte Welt der Amélie« erinnert, ohne jemals abzukupfern.
Dabei vollbringt van Dormael das Kunststück, ein wahres Feuerwerk an abstrusen und originellen Ideen in gelungenem Gleichgewicht zu balancieren. Denn während die Idee eines heruntergekommenen Gottes in einer Brüsseler Wohnung ohne Ein- und Ausgangstür schon ungewöhnlich genug erscheint, wird die Handlung von einer weiteren getragen: den »Death Leaks«, den von Éa an die Menschheit verbreiteten Todesdaten. Dahinter steht die Frage, wie sich die Geschicke der Menschheit, aber auch das Verhalten eines jeden einzelnen ändern würden, wüssten wir um den Zeitpunkt unseres Todes. Auf ihrem Weg durch Brüssel begegnet Éa sechs grundverschiedenen Menschen, die mit ihrem neuen Wissen alle auf sehr eigene Weise umgehen.
Spätestens im Portrait dieser neuen Apostel wird klar, dass dem Film auf beeindruckende Weise den Spagat zwischen Absurdität und warmherziger Poesie zu meistern versteht. Da ist die wunderschöne, aber einsame Aurélie (Laura Verlinden) mit ihrem künstlichen Arm. Da ist Marc (Serge Larivière, »Das Labyrinth der Wörter«), der vom Sex Besessene, der nach Erhalt seiner Todes-SMS beschließt, alle Ersparnisse im Rotlichtmilieu zu verprassen. Da ist Martine (Catherine Deneuve, »Das Schmuckstück«), die einen Ausweg aus ihrer schon lange lieblosen Ehe sucht. Oder der kleine Willy (Romain Gelin), der sich vor seinem Tod nur einen einzigen Wunsch erfüllen möchte: Er wäre nämlich viel lieber ein Mädchen.
Éa kreuzt die Wege all dieser Menschen, stellt Fragen, hört zu und verändert ganz sanft ihr Leben beziehungsweise das, was ihnen davon noch bleibt. Wunderschön dabei Éas Gabe, dass sie im Herzschlag eines Menschen sein persönliches Titellied zu hören vermag. Mit der Mischung aus Musik, charmanten Dialogen und märchenhaften Bildern mit teils surrealem Einschlag schafft es »Das brandneue Testament« rasch, den Zuschauer völlig in den Sog der Geschichte zu ziehen, die in all ihrer Schrägheit doch stets ihrer eigenen Logik folgt. Lachen und das verstohlene Wegblinzeln einer Träne liegen hier ganz dicht beieinander.
Leichte Schwächen offenbart die Story lediglich an wenigen Stellen. So wirkt die Liebesgeschichte zwischen Catherine Deneuve und einem Gorilla zum Teil selbst im Rahmen der Geschichte teils eher befremdlich als zauberhaft, und Willys Wunsch, ein Mädchen zu sein, tritt im Zuge der Handlungsentwicklung eine Spur zu sehr in den Hintergrund. Hier hätte der Film noch etwas mehr Fingerspitzengefühl beweisen können, anstatt Willy nur das Tragen eines Kleides zu gestatten. Die Weichen für einen unaufdringlichen und trotzdem weniger oberflächlichen Umgang mit der Frage nach geschlechtlicher Identität wären allein durch die Figuren Éas und ihrer Gefährten ja bereits gestellt gewesen.
Ansonsten aber weiß »Das brandneue Testament« zu überzeugen, auch schauspielerisch. Pili Groyne verkörpert die kleine Éa souverän, überzeugend und auf eine unaufdringlich liebenswerte Art und Weise. Benoît Poelvoorde als prolliger Gott macht ebenso viel Spaß wie Yolande Moreau in der Rolle seiner verschüchterten Ehefrau, die ihre Rolle auch ohne viele Worte gekonnt auszufüllen weiß. Auch die Darsteller der sechs Apostel machen ihre Sache durchweg gut, wobei beeindruckend ist, dass der Film sich ob der Fülle an Figuren niemals verheddert, unübersichtlich wird oder einzelne Stränge zu vernachlässigen scheint.
Wie verändert sich unser Leben, wenn wir den Zeitpunkt unseres Todes kennen? Verliert die Religion dann tatsächlich ihre Macht? Und warum geht es an der benachbarten Supermarktschlange eigentlich immer schneller? »Das brandneue Testament« schafft das Kunststück, eine originelle Idee auf ganzer Länge überzeugend umzusetzen und große Fragen mit Leichtigkeit einzuflechten. Es ist ein Leinwandmärchen der anderen Art, das letztlich viel feinsinniger daherkommt, als die ursprünglichen Zutaten es zunächst vermuten lassen.
Fazit
Jedermanns Geschmack wird »Das brandneue Testament« sicherlich nicht treffen, doch wer Freude an ungewöhnlichen Ideen, sanfter Abstrusität, feinem Humor und Bildpoesie hat, dürfte den Kinobesuch außerordentlich genießen.
Autor: Sabrina Železný