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Wie ein geprügelter Hund taucht Mikey nach einer zweitägigen Busfahrt aus Los Angeles vor der Haustür seiner Ehefrau auf. Gemeinsam waren beide einst nach Hollywood aufgebrochen, um eine Karrriere im Showbiz zu starten. Nach einigen Jahren des Fames als "Mikey Saber" in der Erwachsenenunterhaltung kehrt Mikey nun jedoch, ganz und gar pleite, in seine Heimat zurück, um einen Neuanfang zu beginnen. Schnell jedoch entspinnt sich in seinem Kopf der Plan zu einem fulminanten Comeback in Kalifornien, der konkrete Formen annimmt, als er engere Bekanntschaft mit einer 17-jährigen High-School-Schülerin macht.

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Quelle: themoviedb.org

Kritik

Vermutlich gibt es derzeit keine*n andere*n US-amerikanischen Filmemacher*in, der oder die sich so solidarisch mit denen zeigt, die gemeinhin ignoriert und dann schlicht als Abgehängte bezeichnet werden, wie Sean Baker. In Starlet (2012) etwa, als er seine Protagonistin, eine junge Pornodarstellerin, bei einem Yard-Sale auf unverhoffte Weise ein tausendedollarschweres Geldbündel finden lässt, das es ihr erstmals erlaubt, echte Entscheidungen zu treffen und Träume zu spinnen. Oder in Tangerine (2015), einem Weihnachtsfilm besonderer Art, in dem er dem Sehnsuchtsort Los Angeles in seinen sonnendurchfluteten Farben die Prekarität zweier Trans-Sexarbeiterinnen gegenüberstellt und dabei gleichzeitig das Medium Kino als Empathiemaschine wie auch als Lupe auf ein urbanes Milieu begreift, die etwas sichtbar macht, was zuvor zumeist nur Randerscheinung gewesen ist.

The Florida Project (2017) knüpfte im Folgenden sowohl thematisch als auch stilistisch an seinen Vorgänger an, wenngleich Baker, nach erfolgreicher Demonstration, dass sich ein ganzer Spielfilm wie Tangerine mithilfe einzig dreier iPhones realisieren lasse, nun, ausgenommen weniger Nachtszenen und heimlicher Guerilla-Aufnahmen, wieder auf analogen Film wechselte. Stärker und präziser als zuvor positionierte Baker hier den Ort der Verwahrlosung und der Wunscherfüllung nicht einander gegenüber, sondern nebeneinander. Das randständige Magic Castle, ein Motel, in dem die junge Haley (Bria Vinaite) mit ihrer Tochter Moonee (Brooklynn Prince, The Marsh King's Daughter) unterkommt, ist ebenso vergessen wie seine Bewohner*innen oder die umliegende, bunte Häusersiedlung oder auch die verlassene Arztpraxis – ein Verweis auf die noch immer nicht flächendeckende Krankenversicherung in den USA. Hin und wieder verirren sich Tourist*innen auf das Gelände des Motels, das, mit seiner kindlichen Architektur, die an ein viel zu grellfarbenes Märchenschloss erinnert, alles dafür tut, um vom Windschatten der unweit gelegenen Disney World zu profitieren. Doch wie so oft bei Baker tritt das, was sich dem Anschein nach in Reichweite befindet, bei genauerer Überlegung in weite Ferne.

Doch was genau mag Baker dazu veranlassen, diese Leuten Sichtbarkeit verleihen zu wollen? Baker, der auf dem ersten Blick aussieht, als sei es erst gestern gewesen, da er sein Film-Studium an der elitären Tisch School for the Arts der New York University abschloss. Es mag damit zusammenhängen, dass Baker selbst weiß, wie es sich nah am Abgrund anfühlt. Unumwunden gesteht der mittlerweile 50-Jährige in Interviews, dass er selbst lange Zeit unter Suchtproblemen gelitten, durch seine Heroinabhängigkeit gut und gerne zehn Jahre auf andere Filmschaffende verloren habe. Gleichermaßen bedeutend mag aber auch die schiere Abwesenheit jener Menschen im US-amerikanischen Gegenwartskino sein, die nicht auf ein solches soziales Auffangnetz zurückgreifen können, das Baker während seiner dunkleren Jahre zur Hilfe kam. Tatsächlich beschreibt Baker diese sozialrealistischen Leerstellen des US-amerikanischen Kinos als Startpunkt jedes Filmprojekts, das er dieser Tage realisiert. Inspiriert von Ken Loachs (I, Daniel Blake) sozialem Anliegen und John Cassavetes‘ (Faces) charaktergetriebener, konventionelle Plots ablehnender Narration, füllt Baker derzeit eine Lücke der nordamerikanischen Kinolandschaft, deren Existenz vermutlich wenigen auffällt, weswegen man umso dankbarer sein kann, dass sich Baker ihrer annimmt.

Wie schon 2017 The Florida Project premierte nun auch Red Rocket, vier Jahre später, in Cannes, dieses Mal allerdings erstmals im Wettbewerb. Es dürfte nicht das letzte Mal gewesen sein, erklärte Baker doch bereits vor einigen Jahren, dass es sein gesamtes Leben lang sein Ziel gewesen sei, einmal einen eigenen Film bei den prestigeträchtigen Filmfestspielen an der Côte d’Azur vorzustellen. Umso enttäuschender liest sich die Zwischenbilanz der Beziehung des US-Amerikaners zum französischen Festival: The Florida Project wurde lediglich in der „Director’s Fortnight“-Nebensektion gezeigt, und auch wenn Red Rocket es nun in den Wettbewerb von 2021 geschafft hat, so ging er doch bei der Preisverleihung gänzlich leer aus. Andererseits, und das wird für Bakers anstehende Projekte weitaus schwerer wiegen als eine Auszeichnung in Cannes, konnten die nordamerikanischen Vertriebsrechte an Red Rocket, wie schon beim Vorgänger, an A24 verkauft werden, was den Weg für kommende Projekte ebnen dürfte. Und doch ist die fehlende Auszeichnung für Red Rocket insbesondere deshalb zu bedauern, weil es sich hierbei zweifellos um einen der besten Filme des Cannes-Jahrgangs 2021 handelt.

Baker-typisch, ist auch der Protagonist in Red Rocket, Mikey Davies aka. Mikey Saber, nicht darauf angelegt, bedingungslos gemocht zu werden. Das Casting Simon Rex‘ könnte indes nicht passender sein, obgleich es sich nicht nahtlos in dessen Filmographie einfügt. Wie Baker, der, einem Interview zufolge, stehts nach dem Credo handelte, einen Fuß in der Schwelle zur Filmindustrie zu behalten, selbst wenn sich dieser nur an den äußersten Rändern des eigenen Geschäfts befände (so verbrachte Baker einige Jahre mit Aufträgen, Filme auf seinen heimischen VHS-Playern zu kopieren oder Hochzeitsvideos zu schneiden), scheint auch Simon Rex Zeit seiner Karriere, koste es, was es wolle, immer darauf bedacht gewesen zu sein, die Verbindungen zur Industrie niemals abreißen zu lassen, auch wenn es mit der großen Rolle nie so ganz klappen sollte. Über die Jahre hat sich auf diese Weise eine bemerkenswerte Collage an Arbeiten angesammelt, die nicht nur ein weitflächiges Genre-Spektrum ausfüllt, sondern auch auf groteske Weise eine popkulturelle Reise durch die vergangenen Jahrzehnte erlaubt. Angefangen als Gay-Pornodarsteller in Titeln wie Young, Hard, & Solo #2 und #3 über sein Engagement als MTV-VJ, das ihm breitere Bekanntheit verschaffte, bis hin zu seinem Eminem-Pastiche im 8 Mile-Segment in Scary Movie 3, das ihm weitere Rollen in Teil 4 und 5 ernten sollte, ergänzt durch sein Mitwirken an verschiedenen Film-Soundtracks (21 Jump Street, The Hangover) in persona seines Rapper-Alter-Egos „Dirt Nasty“ – man mag Rex so einiges vorwerfen, nicht aber, dass er es nicht noch immer versuche.

Mit diesem Wissen im Hinterkopf erinnert Bakers Casting, wenngleich in kleinerer Dimension, durchaus an das Wagnis, das Tarantino einst mit John Travolta in Pulp Fiction einging, und auch hier zahlt es sich von Beginn an aus. Zu schnell wickelt einen Rex mit seinem Charme und seiner Energie um den Finger, um allzuviel Zeit damit zu verschwenden, näher über die vermutlich schneidenden Parallelen zwischen Mikey Sabor und Simon Rex nachzudenken. Stattdessen lohnt es sich, einen näheren Blick auf die Geschichte und das Umfeld zu werfen, von der Baker hier erzählt. Auf clevere Weise stellen er und sein regelmäßiger Co-Writer Chris Bergoch die gängige Erzählweise auf den Kopf, indem sie uns Mikey als mittel- wie hilflosen Protagonisten vorstellen, der in uns allem voran Mitleid erregt, als er nach einer demütigend-langen, zweitägigen Busfahrt von Los Angeles nach Texas, im wahrsten Sinne des Wortes blauäugig, an der Haustür seiner noch-Ehefrau Lexi (Bree Elrod, Shutter Island) klopft, um bei ihr und ihrer Mutter Lil (Brenda Deiss) unterzukommen. Noch unvertraut mit seinen Maschen und Tricks und ohne Wissen um seine Vergangenheit erscheint uns die Abfuhr, die er von ihnen erhält, nur allzu schroff, doch Mikey, wie einst Baker und wie Rex, gelingt es, einen Fuß in der Türschwelle zu behalten, und nach großen, windigen Versprechungen, charmant wie geschwind vorgetragen, ergaunert er sich ein paar Nächte auf der Couch seiner Frau und Schwiegermutter.

Im Folgenden lernen wir Mikey ebenso wie das neue Umfeld im industriellen Texas City kennen, ein Umfeld, aus dem er einst Richtung Traumfabrik Hollywood geflohen war, um mit seiner damals noch-Freundin Lexi die große Karriere in der Unterhaltungsindustrie auf den Weg zu bringen. Und tatsächlich, 20 Jahre später, es sind die Monate vor der US-Wahl 2016 und die Stimme Donald Trumps dröhnt aus dem Fernseher, könnte niemand behaupten, Mikey habe es nicht zu einem gewissen Stardom gebracht. Wann immer es die Situation auch nur ansatzweise erlaubt, verweist er auf seine Vergangenheit in der „Erwachsenenindustrie“, im Rahmen derer er unter dem Künstlernamen Mikey Sabor mehrfach für die „beste Blowjob-Szene“ ausgezeichnet wurde. Es wäre allerdings kein Sean-Baker-Film, wenn die Frage, wer denn die wirkliche Arbeit in diesen Szenen geleistet habe, nicht nur instantan zur Sprache käme, sondern sich gar, über die Laufzeit des Filmes, zum Running Gag stilisierte. Maskulinität ist bei Baker ohnehin rar gesät, und wenn sie dann einmal thematisiert wird, dann nur, um sie zu brechen oder der Lächerlichkeit preiszugeben. In diesem Sinne lässt sich auch der Titel des Films, Red Rocket, lesen, ein Slang-Ausdruck für die Erektion eines Hundes.

Wie ein solcher geprügelter Hund beginnt Mikey alsdann seinen Neuanfang in Texas City, über die die Bewohner*innen bisweilen sagen, es sei die Stadt, die niemals sterben könne. Er knüpft wieder Bande mit früheren Highschool-Bekannten, denen er einst hoffte, nie wieder begegnen zu müssen, um in die örtliche Gras-Dealerei einzusteigen, die fest unter der Kontrolle Junes (Brittney Rodriguez, eine der vielen lokalen Entdeckungen, die Baker als erstmalige Schauspieler*innen integrierte), der Tochter einer ehemaligen Klassenkameradin, steht. Und während Mikey mit der Dealerei genug Geld verdient, um sich nicht nur länger im Haus einzuquartieren, sondern auch wieder ins Bett mit Lexi (unterstützt durch gewisse blaue Pillen) zurückfindet, die sich nun, dank des neuen Geldflusses, nicht mehr über Craigslist verdingen muss, reifen in diesem bereits erste Pläne, diesem gleichsam untoten wie unbeachteten Ort so schnell wie möglich wieder den Rücken zu kehren. Es ist ein Ort, der ihm auf unangenehmste Weise Bilder des Scheiterns aufzwingt, denen er einst zu fliehen suchte. Etwa, wenn er durch das Küchenfenster beobachtet, wie seine Schwiegermutter Crack raucht, weil sie sich die herkömmlichen Medikamente nicht leisten kann.

Mikey wollte nie Teil einer solchen Welt sein, und blendet sie aus, soweit er es kann. Schnell gerät er ins Träumen, als er die sommersprossige, rothaarige und nicht ganz 18-jährige Raylee (Suzanna Son) an der Theke eines Donut-Ladens erblickt, wo die lolitahafte High-School-Schülerin in der schulfreien Zeit arbeitet. Ohne jede Spur von Bedenken oder Verlegenheit schmeißt sich Mikey an sie heran, und es ist schon bezeichnend, dass es diesen, ganz im Gegensatz zum Publikum, nicht weiter überrascht, als sich Raylee auf dessen durchschaubaren wie unbeholfenen Avancen einlässt – nicht jedoch, ohne ihm vorher anzuvertrauen, dass er sie zukünftig schlicht Strawberry nennen solle. Mit Raylee an seiner Seite schweben Mikey nun konkrete Comeback-Pläne des gut bestückten Mikey Sabers vor, ermöglicht durch seinen neuen Co-Star – Strawberry.

Vermutlich lässt sich Bakers Titel auch auf diese Weise lesen, Strawberry, die rote Rakete, die Mikeys Libido auf eine solche Weise entfacht, dass er den blauen Pillen entsagen kann. Es ist die Rakete, die ihn in seiner Vorstellung schon wieder Richtung Los Angeles geschossen hat, der Antrieb seines Plans, der sich mit jeder Woche, da er mehr Geld mit dem Grasverticken verdient, ein Stückchen mehr dem Jetzt annähert. Mit großer Präzision stellt uns Baker diesen Charakter vor, der, wie es scheint, niemals wirklich in Texas City angekommen ist, der beim Betreten seiner letzten Zuflucht, des Hauses seiner Frau Lexi und ihrer Mutter, diese im Geiste schon wieder verlassen hat. In dieser bizarren Zwischenwelt verweilend, in der der im Geist gesponnene Glanz des zukünftigen Comebacks bereits die Gegenwart erreicht hat und diese in viel zu bunten Farben bepinselt, erlaubt Baker uns die tiefen und selbstvergessenen Einblicke in die Gedankenwelt eines Narzissten, der nur dann jemals einen Blick für seine Mitwelt übrig hat, wenn sich diese als opportun erweist. Man darf dankbar sein, dass sich Baker niemals in diesen Luftschlössern verliert, auch wenn er sehr wohl darum weiß, wie unterhaltsam es ist, deren Bau zu begleiten, während sie Gestalt annehmen. Stattdessen scheint er sich einer gewissen Moral verpflichtet, die das Umfeld, das Mikey zu instrumentalisieren sucht, ermächtigt, sich, wenn nötig, gegen diesen aufzulehnen. In einer Zeit, da die ländlichen Regionen immer nur als Opfer einer metropolorientierten Politik stilisiert und verstanden werden, tut es unwahrscheinlich gut, wenn ihnen zumindest im Kino noch eine gewisse Handlungsmacht zugestanden wird.

Auf ganz fabulöse Weise gestaltet Baker diese Geschichte, die wie schon seine drei Vorgänger auf einen klassischen Erzählbogen verzichtet oder diesen zumindest so gekonnt verschleiert, dass es uns, wann immer der nächste Plotpunkt in Reichweite erscheint, auf den falschen Fuß erwischt, wenn sich der tradierten Erzählmuster entzogen werden. Wie die weitgehende Abkehr von der traditionellen Aktstruktur lässt sich auch das Genre Red Rockets nur schwerlich definieren. Wie Bakers vorangegangenen Filme gibt es immer wieder komische Momente, doch es fühlte sich falsch an, wollte man Red Rocket als Komödie kategorisieren. Vielmehr handelt es sich um ein Stück aus dem Leben eines Narzissten, der sich ständig von einer Unannehmlichkeit in die nächste, noch heiklere, manövriert, ganz so, als habe man dem atemlosen Uncut Gems der Safdie-Brothers, das Speed entzogen und durch ein starkes Aphrodisiakum ersetzt.

Bakers Formwille ist indes von der ersten Einstellung an unverwechselbar, wenn wir durch das Busfenster und zu *NSYNCs Bye Bye Bye die Industrielandschaften am gebeutelten Mikey vorbeistreifen sehen. Neben den genannten Loach und Cassavetes scheint indes insbesondere auch Robert Altman (Nashville) von Inspiration gewesen zu sein, was sich im prominent eingesetzten Zoom des grobkörnigen 16-mm-Filmes widerspiegelt, eines der wahrlichen Filminstrumente, auf die Baker und sein DP Drew Daniels (Waves) wiederholt zurückgreifen, um die Kamera aus ihrem bisweilen dokumentarischen Blick zu reißen und diese als eigenen Charakter zu akzentuieren. Noch souveräner und stilsicherer als in The Florida Project kommt Baker seiner Vision und Stimme einen großen Schritt näher und lässt die Kamera gekonnt zwischen dem Inneren und dem Äußeren oszillieren, schafft Distanz wie Nähe, die es uns erlaubt, eine gewisse Sympathie zu dieser widerlichen Figur aufzubauen und sie nicht verloren zu geben, ohne mit ihr und über sie gelacht, vielleicht sogar mehr mit ihr mitgefiebert zu haben, als wir es uns eingestehen wollen. 

Fazit

Auf beeindruckende Weise setzt Baker seinen Triumphzug fort, der mit "Starlet" einsetzte und nach "Tangerine" und "The Florida Project" nun in "Red Rocket" den vorläufigen Höhepunkt seines Schaffens findet. Mit seinem Kino der Marginalisierten zementiert Baker seinen Status als einer der wichtigsten US-Regisseure der Gegenwart und beweist auf ungemein empathische Weise, dass sozialer Realismus und Unterhaltungskino keine Gegensätze bilden müssen.

Kritik: Patrick Fey

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