Als eine der goldenen Regeln im Bezug auf das Filmemachen gilt, dass der Zuschauer innerhalb der ersten zehn Minuten eine Art Identifikationsfigur braucht, ansonsten verliert dieser umgehend jegliches Interesse am weiteren Verlauf. Dabei erweist sich eine solche Regel in der Praxis häufig als überflüssig, denn eigentlich sind es doch oftmals gerade die bösen Figuren, Gegner oder Konkurrenten in einem Film, die sich als interessanteste Komponenten entpuppen. Wenn moralische Grenzen ausgelotet werden oder Charaktere die Schwelle zum Verbotenen so eindeutig bewusst überschreiten, dass eine persönliche Identifikation mit ihnen überhaupt nicht mehr möglich ist, ergibt sich hierdurch ein spezieller, auf fragwürdige Weise aufregender Reiz, den die Berücksichtigung der oben aufgeführten Regel niemals auslösen könnte.
In dem unglaublich düsteren Psycho Raman wirft Regisseur Anurag Kashyap (No Smoking) jene Regelung folglich schonungslos über den Haufen und stellt gleich zwei kontroverse Protagonisten in den Mittelpunkt seines Films. Kashyap greift zunächst eine wahre Begebenheit auf, bei der ein Serienkiller in den 60ern in Mumbai ungefähr 40 Menschen mit einer Eisenstange erschlug und seine Taten offen zugab. Der Regisseur stellt allerdings sofort klar, dass sein Werk kein Biopic ist, dass sich mit diesem Killer beschäftigt. Stattdessen ist Psycho Raman eher eine nihilistische Variation der realen Vorlage, bei der das Erbe des Serienkillers Raman Raghav als schizophren gespaltene Form in Gestalt von zwei Figuren in der Gegenwart manifestiert, die auf gegensätzlichen Seiten des Gesetzes stehen und doch identische Seiten einer Medaille darstellen.
Innerhalb von zwei Jahren wird Mumbai von neun Mordfällen erschüttert, die der Vorgehensweise des legendären Mörders gleichen. Eigentlich könnte Kashyaps Film in Rekordzeit enden, denn schon nach kurzer Zeit taucht ein Mann vor dem Polizeirevier auf und behauptet, für alle Taten verantwortlich zu sein. Die unprofessionelle Vorgehensweise der Beamten, die hinter dem zwielichtigen Ramanna einen verwirrten Obdachlosen vermuten, der sich im Gefängnis ein Bett und Essen erhofft, ist gleichzeitig eine Kritik des Regisseurs am Polizeiapparat Indiens, welcher sich im Verlauf der Handlung wiederholt als überfordert, machtlos oder völlig inkompetent erweist. Die Flucht von Ramanna, der in Wirklichkeit exakt das ist, was er vorgibt zu sein, nämlich so etwas wie der Teufel in Menschengestalt, ist allerdings nur der Auftakt zu einem perfiden Katz- und Mausspiel zwischen ihm und dem korrupten Polizisten Raghavan.
Zwischen dreckigen Bildern, bei denen der Regisseur das Elend der von Armut gezeichneten Slums Mumbais ungeschönt zeigt, ist Psycho Raman zudem mit einer extrem stilvollen Handschrift inszeniert, bei der Kashyap auf grell ausgeleuchtete Settings oder überraschend platzierte Songs setzt, die den Handlungsfluss immer wieder markant aufbrechen. Atmosphärisch wirkt der Film, als hätten sich Thriller-Spezialist David Fincher (The Social Network) und Nicolas Winding Refn (Drive), eines der audiovisuell momentan stärksten Talente in der Filmszene, in Indien zusammengetan und dieses Werk geschaffen. Auch wenn einige inhaltliche Bausteine mehr als vertraut wirken und das Motiv des Duells zwischen zwei Figuren, die eigentlich Kontrahenten sind und charakterlich doch voller Parallelen stecken, keinesfalls eine Innovation darstellt, ist Psycho Raman bis zur bittersten Konsequenz durchdacht worden und drückt den Betrachter durch schockierende Höhepunkte und die druckvolle Machart regelmäßig in den Sitz.
Einen großen Anteil an dieser Sogwirkung, die ihren Reiz aus der Faszination des mitunter puren Bösen bezieht, tragen die beiden Hauptdarsteller bei. Nawazuddin Siddiqui (Lion) verkörpert mit seinen furchterregenden Augen und der unberechenbaren Ausstrahlung einen derart intensiven Psychopathen, dass es einen immer wieder fröstelt. Neben ihm muss sich Vicky Kaushal (Masaan) daher aus einem großen Schatten hervorspielen. Als brutaler Polizist, der nicht nur direkt am Tatort Koks durch die Nase zieht, sondern die eigene Freundin rücksichtslos unterdrückt, beim Sex bewusst auf das Kondom verzichtet und Abtreibung bei einer möglichen Schwangerschaft gefühllos in Betracht zieht, stellt er ein explosives Gegenstück zu Siddiquis brillantem Psychopathen dar und gerät immer stärker außer Kontrolle. In einer beängstigenden Schlüsselszene sind beide Figuren schließlich nicht mehr zu unterscheiden und verschmelzen in verstörender Manier symbolisch zu einem Wesen, das längst keine Unterscheidung mehr macht, ob es aus reiner, geisteskranker Willkür mordet oder währenddessen eine schützende Polizeimarke trägt.