Inhalt
Der Filmemacher Michael Stock wurde im Alter zwischen acht und sechzehn Jahren von seinem Vater sexuell missbraucht. 25 Jahre später konfrontiert er vor laufender Kamera seine Familie mit seiner Vergangenheit. Die daraus entstandene Videobotschaft sendet er in Form eines Dokumentarfilms an den Vater. Trotz des unfassbaren Dramas ist "Postcard to Daddy" nicht von Hass geprägt, sondern von Hoffnung und Liebe zum Leben. Michael Stock will nicht anklagen, sondern verstehen.
Kritik
Die ganze Kindheit über habe ihn diese Sache beschäftigt, rekapituliert Filmemacher Michael Stock, seine ganze Jugend, sein ganzes Leben. Der zwischen Selbstporträt und Familienbiografie oszillierende Dokumentarfilm ist seine persönliche Aufarbeitung des jahrelangen sexuellen Missbrauchs durch seinen Vater Roland. Vor der Kamera erinnert sich der Regisseur an das erste der traumatischen Erlebnisse, die er als Kind in den achtziger Jahren im Haus seiner Eltern ertragen musste. Acht Jahre war er alt, als der sexuelle Missbrauch durch den Vater begann. Schließlich eskalierten die physischen und psychischen Misshandlungen in einem gewalttätigen Streit. Stock, damals 16 Jahre alt, packte seine Sachen und ging zu seiner Mutter. Doch seelisch konnte er die Vergangenheit hinter einfach hinter sich lassen. Seine Dokumentation ist das Zeugnis des Entschlusses, seine Mutter, die beiden Geschwister und nicht zuletzt sich selbst mit der verdrängten Seite der Familiengeschichte zu konfrontieren. Seinen Verbrechen und seinem Sohn soll Roland sich stellen - vor der Kamera.
Die filmische Versuchsanordnung wirkt beklemmend und tragisch, jedoch nur zum Teil aufgrund der Thematik. Vielmehr ist es der versöhnliche Ton, den der Regisseur in seiner schwierigen Aufarbeitung anschlägt. Er habe seinen Vater „an die Hand genommen und einen Spaziergang in die Vergangenheit gemacht“, umschreibt der Regisseur seine Herangehensweise. Ein Respekt gebietender Entschluss, der manchmal schwer zu akzeptieren ist, besonders, da die Umstände des Missbrauchs und die Reaktionen der Familienmitglieder unverzeihlich und zugleich traurig charakteristisch für derartige Verbrechen wirken. Weder die Mutter noch die älteren Geschwister wollen etwas bemerkt haben. Doch war der Alkoholismus des Vaters tatsächlich der einzige Grund, dass Stocks Bruder und Schwester sich systematisch vom Vater zurückzogen? Die Schwester spricht mit verständlicher Abscheu von Roland, von dem sie ihre Kinder fernhält. Und trotzdem sagt sie dem kleinen Bruder, sie könne sich bis heute nicht vorstellen, dass Roland ihm das angetan habe. Der kleine Junge von einst erscheint nur flüchtig auf wenigen Fotografien.
Das Kind, das der Regisseur einmal war, bleibt eine Leerstelle, muss es womöglich bleiben. In dieser Abwesenheit liegt wohl die größte Tragik der Geschichte. Stocks Kindheit endete früh, seine Jugendzeit prägten Exzesse und Selbstzerstörung. Die latente Autoaggression thematisiert der Film ebenso offen wie den Missbrauch. Auch die Mutter behauptet, nichts gewusst zu haben. Seiner Mutter widmet Stock die ausführlichsten Interviews, beobachtet sie liebevoll und dankbar während eines gemeinsamen Urlaubs in Thailand. Auch sie war in der Vergangenheit oft abwesend, engagierte sich sozial und politisch. Es scheint, als hätten ihn damals alle allein gelassen. Warum, diese quälende Frage stellt er nicht. Unbewusst, scheint es, sucht er die Schuld weiterhin bei sich. Selbst die lapidaren Worte seines Vaters über seine Verbrechen erträgt Stock. Ob er aus der Opferrolle herausgefunden habe, fragt Stock einmal. Die Antwort, die seine familiäre Exkursion nahelegt, ist womöglich der tragischste Aspekt des um Hoffnung bemühten Werks.
Fazit
In seinem intimen Dokumentarfilm blickt der Regisseur 25 Jahre später zurück auf die qualvollen Erlebnisse seiner Kinderzeit und evaluiert deren Einfluss auf seinen Lebensweg. An erster Stelle ist sein Werk eine Nachricht an den Vater und zugleich ein Versuch der Loslösung von ihm.