Inhalt
Larchers epischer, visueller Trip ist ein Meilenstein des britischen Avantgarde-Kinos. Vom Abstrakten zum Bildhaften, ins Vage, in die Weite, in die Intimität studiert er mithilfe von quasi-autobiographischem 16-mm-Material Leben und Natur.
Kritik
Einer der vielen Ansätze des Avant-Garde Kinos des späten 20sten Jahrhunderts war die Suche nach dem „unschuldigen Auge“ (um es in die Worte von Stan Brakhage (Dog Star Man) zu fassen). Der Versuch eine Art von Wahrnehmung zu schaffen, die nach herkömmlichen Sehkonventionen nicht mehr einordbar ist. Eine Form Kino welche das Prinzip „Sehen bedeutet Verstehen“ durchbricht. In diesem Ansatz findet der Film zu dessen absoluten Ursprüngen zurück. Die bloße Materie des filmischen Zelluloids wurde von Brakhage selbst erforscht, sie stellte einen wichtigen Aspekt seiner Vision des menschlichen Sehens dar. Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert David Larchers Experimentalfilmepos Mare`s Tail, eine wilde Mischung aus hypnotischem Trip, Essay über den Akt des Sehens und einer audio-visuellen Odyssee durch ein Leben, dessen 16mm Filmrollen nie digitalisiert wurden. Larchers Film, bestehend teilweise aus privaten Aufnahmen, nutzt die Aspekte und Möglichkeiten des 16mm Filmmaterials und erschafft einen verfremdeten Trip in die unendlichen Weiten der menschlichen Erfahrung. Es ist vielleicht deswegen auch eines der bedeutendsten Zeitdokumente der britischen Gegenkultur der 60er Jahre, nicht weil der Film historische Ereignisse festhält, sondern weil er eine Art von Kino darstellt, in dem wirklich alles möglich schien.
Larchers Film beginnt mit einem Haufen Punkte, die sich auf der weißen Leinwand positionieren, umeinander tanzen wie Membranen, die man durch ein Mikroskop betrachtet, und schließlich Muster und Strukturen formen. Dieses visuelle Spiel steigert sich immer weiter und morpht in eine visuelle Stimulation. Die ersten greifbaren Bilder sind die vernebelten Aufnahmen eines Klassenzimmers. Ein Mann spricht vom „Bedürfnis nach echter Wahrnehmung“. Genau dieses Bedürfnis erlebt das geschulte Auge beim Sehen dieses Filmes, welches immer wieder versucht, die visuellen Muster zu deuten und einzuordnen. Sehen wir hier die Explosion einer Galaxie, einen LSD-Trip oder sind wir in einem intensiven, abstrakten Traum gefangen? Larchers Film negiert jegliches Prinzip nach einer klar definierten, „echten“ Wahrnehmung und dekonstruiert den menschlichen Blick indem sein Film einen Raum grenzenloser Erfahrung eröffnet. Jede Bewegung beschleunigt den Strudel aus Eindrücken und überstrapaziert das Sehen. Dabei bedient sich Larcher an so gut wie allen Formen von Objektiven und filmischen Verfremdungen, von der Fischaugenlinse bis hin zu Negativbildern, während die Montage Bilder erschafft, die wie aus einem psychedelischen Fiebertraum entsprungen wirken. Eines der eindrucksvollsten Sequenzen zeigt die Stonehenge-Ruinen, überlagert von einer leuchtenden Autobahn, während in einer andern sich ein Gesicht auf zwei gefalteten, menschlichen Händen formt. Larchers Vision bewegt sich überall hin und erschafft so eine eigene Dimension.
Ähnlich wie einem der Filme von Jonas Mekas (As I Was Moving Ahead Occasionally I Saw Brief Glimpses of Beauty), einer von Larchers kontemporären Filmemachern, kommen in Mare`s Tail private Aufnahmen zum Einsatz. Über weite Strecken gleicht der Film einem von Mekas berühmten Tagebuchfilmen, wenn Larcher seine Familie beim Spaziergang durch den Park zeigt. Jedoch gliedert Larcher die Aufnahmen in einen viel abstrakteren Zusammenhang. Nachdem der Film über grundsätzliche menschliche Wahrnehmungsmöglichkeiten reflektiert hat, inklusive meditativen Sequenzen rund um die Kraft des Lichtes, wird der Film fast zu einer Art Nacherzählung eines ganzen Lebens. Eingeleitet wird dieser Abschnitt durch eine verlängerte Sequenz, welche die Geburt von Larchers Kind hautnah und in Detailaufnehmen abbildet. Es ist ein Moment voller Anmut und Wunder, aber auch von entwaffnender Härte, weil er das Auge der ZuschauerInnen in eine fast schon voyeuristische Position drängt. Gleichzeitig aber verfügen derartig schonungslos intime Aufnahmen über das Potenzial der Identifikation. Larchers Bilder sind unserer Bilder. Durch die Dekonstruktion jeglicher Strukturen aus Raum und Zeit wird die Reise durch das Leben zur eigenen, persönlichen Reise in unsere Erinnerungen und Erfahrungen. Vielleicht ist das der Grund, warum nach Ende des Filmes man sich so fühlt, als wäre einem für 160 Minuten Zugang zum eigenen Unterbewusstsein ermöglicht worden, so direkt und unmittelbar gestaltet sich Larchers Vision. Egal wie abstrakt und ungreifbar sich sein Film gestaltet, es ist eine der Erfahrungen die unsere Augen, im besten Sinne des Wortes, „unschuldig“ erscheinen lassen. Mare`s Tail zu sehen bedeutet, Kino noch einmal zum ersten Mal zu erleben und, nachdem die Lichter des Filmes verloschen sind, die Welt noch einmal zum ersten Mal zu sehen.
Fazit
„Mare`s Tail“ ist ein verschollenes und sträflich vergessenes Meisterwerk. In einem kolossalen Trip an die Grenzen der Sehkonventionen kreiert der Regisseur einen Raum der bedingungslosen Erfahrungen und der unmittelbaren Eindrücke, während alle Techniken des Filmemachens ineinander zu laufen scheinen. Es ist eines der größten Wunder des Filmes ist, dass er sich nie verkopft anfühlt, sondern immer an die Augen der Sehenden gerichtet ist. Eine der gewaltigsten Leinwandtrips die wohl je gedreht wurden und ein bewusstseinserweiterndes Erlebnis.
Autor: Jakob Jurisch