Film-Professoren, ja eigentlich jeder Mensch, der anderen Menschen die Regeln und Künste des Films lehren möchte, dürfte mit einem lachenden und einem weinenden Auge den Kopf schütteln, wenn er sich den Auftakt von Sono Sions("Tokyo Tribe") Hass-Trilogie anschaut. Der erste Plot-Point, mit dem der Film vom ersten in den zweiten Akt voranschreitet, kommt hier nach 60 Minuten. Davor und danach gibt es eine wechselnde Stimme aus dem Off, Zeit-Sprünge als wäre es die einzig richtige Methode, um einen szenischen Aufbau zu konstruieren. Sono macht wieder einmal was er will - und das vier Stunden lang. Ein Film über Religion, Familie, Hass, Liebe und Perversion.
In fünf Kapitel erzählt Sono mehrere Geschichten, die sich alle auf das Ereignis an der 60-Minuten-Marke, welche im Film schlicht „das Wunder“ genannt wird, hinbewegen oder von ihr ausstreuen. Im ersten Kapitel, das dem Protagonisten Yu (Takahiro Nishijima, "Himizu") gewidmet ist, ist die Liebe ein zwangsweise enttäuschendes Konstrukt, weil ihre bedingungslose Erfüllung unmöglich erscheint. Yu handelt aus Liebe für einen toten Menschen oder einem ihm verschlossenen. Sein Vater (Atsuro Watabe, "Gaku") handelt aus Liebe zu Gott, einer Liebe die man (als Nichtgläubiger) als äußerst einseitig beschreiben kann und eine weitere Frau, ist in Yus Vater verliebt; ein Mann, der sich Gott versprochen hat und damit unfähig ist, Liebe zu erwidern. Denkt man an die Liebe, ist die erste Assoziation (hoffentlich) stets positiver Natur. Dennoch kann sie aus einem sanften Menschen einen brutalen machen und aus einem Optimisten einen Zynisten. Und vor allem bringt sie dazu, sich selbst zu vergessen. Es ist Yu unmöglich, die Liebe seines Pfarrer-Vaters zu erreichen, ohne anständig beichten zu können. Also fängt er an zu sündigen. Er begeht Sünden der Vergebung wegen. Es ist eines der deutlichsten Motive, das in Sonos Gedankenwelt führt, aufzeigt, wie absurd Liebe und Glauben sein kann. Und dennoch wird auch deutlich, wie dringend der Mensch beides braucht.
Durch die Liebe und das Begehen der Sünden begibt Yu sich auf einen Pfad der Selbstzerstörung. Das Geben von Liebe ist in seinem Fall gleichbedeutend mit dem Geben seiner Identität, er muss das ultimative Opfer bringen und sich selbst aufgeben. Welcher halbwegs normale Mensch würde sich selbst zerstören? Die Liebe macht’s möglich. Und das wirkt im Film zwar alles fies, aber nicht unverständlich. Man wünscht Yu, dass er die Aufmerksamkeit von seinem Vater bekommt und nimmt deshalb auch seine Sünden in Kauf. Seine Sünde besteht darin, dass er unter Röcke von Frauen fotografiert. Und in Japan scheint jede Frau Röcke zu tragen, es ist wahrlich überwältigend. Yu begeht diese Sünde nicht aus Lust, sonder nur des Prinzips der Sünde wegen. Eben damit er etwas zum Beichten hat, weil sein Vater mit Beichten à la „Ich habe Ameisen getötet“ nicht zufrieden war. Mit einem Mal wird Yu als Perverser gebrandmarkt, von Leuten, die Inzest erlebt haben, mit einer Schere erigierte Penisse abgeschnitten haben, Stalker und Sekten-Gründer sind und wahllos und zum Spaß Männer krankenhausreif prügelten. Aber nein, Yu ist der Perverse, von dem sich jeder angewidert entfernt. Sie sehen nur noch den Perversen in ihm und verpassen dabei, dass er sich seiner wahren Lust (die Attraktion zu Yoko) schämt.
Im Leben von Koike (Sakura Ando, "Petal Dance") , einer jungen Dame, die anfangs stets eine beobachtende Rolle hat und erst später nach dem Wunder wirklich eingreift, hat die Liebe keine wirkliche Bedeutung. Sie wird von ihrem Vater physisch misshandelt, geschlagen und getreten und ihr wird von ihm stets das Tragen einer „Erbsünde“ vorgehalten. Sono zeigt ein Bild einer Familie, in der Liebe nicht vorausgesetzt ist, keine Verpflichtung. Man muss seine Eltern nicht lieben, nur weil sie die Eltern sind. Die Eltern sind kein Tabu-Gebiet, das man, wie Gott, nicht hinterfragen darf. Denn für Kinder haben die Eltern eine gottgleiche Stellung. Eine Stellung, die dem Menschen bewusst ist und zu viel für ihn ist, weil er dazu neigt, sie auszunutzen. Womit er sich von Gott unterscheidet. Es geht in Koikes Kindheit nicht darum, die Liebe ihres Vaters zu bekommen (der Zug ist abgefahren), sondern es geht um die Befreiung von der von uns Menschen eingebildeten übergeordneten Gewalt, der wir uns freiwillig unterordnen, weil wir uns emotionale und körperliche Sicherheit ausmalen, wenn wir es tun.
Yoko (Hikari Mitsushima, "Kakera") allerdings tut das nicht. Sie rebelliert, sie bricht aus dieser Gedankenwelt aus und dreht frei durch. Sie wurde von ihrem Vater sexuell begehrt und genötigt und ist seitdem in einer Welt, in der Männer der Feind sind, in der Liebe weit entfernt ist, in der sie keine Pflicht, ihr Fehlen aber ein großer Faktor ist. Yoko lebt auf einem Pfad der verwirrten Rebellion. Sie hasst alle Männer aus Prinzip außer Kurt Cobain. Ein Feminist, ein Mann, der keine Angst hatte, eine emotionale Verzweiflung und Depression der kaputten Welt gegenüber auszudrücken. Yoko zerstört aus Lust und Laune das Leben anderer Familien, beruflich rein metaphorisch, wenn sie die Häuser und Wohnungen von anderen Menschen zerlegen darf und es dabei vor allem auf die Fotografien abgesehen hat. In ihrer Freizeit allerdings tut sie es nicht metaphorisch, wenn sie umherstreift und wahllos andere Männer verprügelt. Yoko ist, wie Sono in seinen avantgardistischen Einwürfen dargestellt, ein Querschläger einer Pistole, der unkontrolliert, ziellos, aber deshalb nur noch gefährlicher zerstörerisch umherfliegt. Diese drei Jugendliche werden hier in eine Dreiecksbeziehung aus Lügen, Liebe, Sucht und Angst gezogen, in der sie sich vom unsicheren Dunkel an das Licht tasten wollen. Liebe, Familie, Religion. Eines bedingt das andere, nichts wäre ohne die anderen Komponenten vollkommen. Die Liebe ist eine moralische Perversion, eine Religion, sie ist ein gedankliches Konstrukt, dass über und zwischen uns zu schweben scheint. Sie hört niemals auf.