Inhalt
Die 35-jährige Margaret schlägt bei einem heftigen Streit auf ihre Mutter ein und wird mit einem dreimonatigen Kontaktverbot belegt. Doch der 100-Meter-Bannkreis um das Haus der Mutter lässt Margarets Sehnsucht nach familiärer Nähe nur wachsen.
Kritik
Gleichermaßen impulsiv und explosiv bündelt die Eröffnungsszene neben den familiären Faktoren des treibenden Konflikts in Ursula Meiers (Home) süffisantem Beziehungsdrama auch die dramaturgischen und psychologischen Schwächen der Inszenierung. Die beginnt mit einem Crescendo im wahrsten Sinne: Volle Teller, eine Blumenvase und Schallplatten knallen gegen eine Wand und zerschellen. Das Publikum hört kaum einen Ton von der mit klassischer Musik untermalten Zerstörungsszene, an dessen metaphorische und emotionale Kraft der zweite Berlinale Wettbewerbsbeitrag der Regisseurin nie wieder heranreicht.
Wie vor zehn Jahren in Sister geht es um die destruktive Energie toxischer Beziehungen wie der zwischen der exaltierten Solo-Pianistin Cristina (Valeria Bruni Tedeschi, The Divide) und ihrer hyperaggressiven Tochter Margaret (Stéphanie Blanchoud, La regate). Die 35-Jährige, deren Leben aufgrund ihrer unkontrollierten Gewaltausbrüche zu kollabieren droht, fügt ihrer Mutter bei der zu Beginn gezeigten Attacke einen bleibenden Hörschaden zu. Die richterliche Folge ist eine einstweilige Verfügung, die Margaret auf 100 Metern Abstand hält. Eine mehrfach sinnbildliche Grenze.
Die titelgebende Linie ist der Schlussstrich, den Margaret unter ihrem kontraproduktiven Groll ziehen soll, wie es ihre religiös-schwärmerische jüngste Schwester (Elli Spagnolo) ihr ebenso naiv wie anschaulich mit einer Kreidefarbe-Bodenmarkierung vormalt. Zugleich verweist die juristisch auferlegte Grenze auf die nie vollzogene Abnabelung zwischen unreifer Mutter und längst erwachsener Tochter, soziale Grenzwanderung sowie fehlende Loslösung von einem Zustand infantiler Verantwortungslosigkeit. Zwischen sanftem Spott und trivialer Tragik wird die Kunst zum überwindenden und verbindenden Kernmotiv.
Fazit
Trotz aller schauspielerischen und stilistischen Stärken erschöpft Ursula Meiers ironisch aufgebrochenes Familiendrama weder die individuell noch universellen Implikationen der melodramatisch aufgeladenen Figurenkonstellation. So ansehnlich allegorisch die Szenen bisweilen konzipiert sind, so unbefriedigend und unzureichend ist die Ausarbeitung der angedeuteten Lösungswege. Latenter Moralismus und die Tendenz, filmische Konvention vor Glaubwürdigkeit zu priorisieren, machen aus der vielversprechenden Konfliktstudie dann doch mehr ein Lehrstück über die postulierte Notwendigkeit sozialer und legaler Grenzen als die grenzüberwindende Empathie der Kunst.
Autor: Lida Bach