Inhalt
Seit Jahren sind die Ultra-Fans der drei wichtigsten Fußballclubs in Istanbul (Galatasaray, Fenerbahçe und Besiktas) weltweit bekannt für die bedingungslose Unterstützung ihrer Teams. Ihre gegenseitige Rivalität endet häufig in extrem gewalttätigen Auseinandersetzungen mit zahlreichen Verletzungen und sogar Todesfällen. Doch im Sommer 2013 geschieht etwas Außergewöhnliches: während der Proteste und Zusammenstöße gegen die türkische Regierung und Premierminister Erdogan im Gezi-Park vereinen sich die konkurrierenden Fanclubs zum ersten Mal für eine gemeinsame Sache. Menschen, die berüchtigt sind für ihren Hass, stehen nun Seite an Seite und kämpfen unter dem Namen "Istanbul United" gegen das herrschende System in der Türkei.
Kritik
Die Thematik, welcher sich die Dokumentation angenommen hat, klingt zumindest auf dem Papier nach einem Hollywood-Film voll Pathos, sanften aber lauten Streichinstrumenten und Close-Up nach Close-Up, von Menschen, deren Heroismus in den Himmel geschrien wird. Eigentlich rivalisierende Gruppen vergessen ihren Zwist und vereinen sich im Kampf gegen das unterdrückende System. Da könnte man „directed by Angelina Jolie“ raufkleben und abschicken. Aber anders als in solchen Musterfilmen handelt es sich bei „Istanbul United“ um eine Dokumentation, deren Bilder weit entfernt sind von dieser sauberen Politur, den Moneyshots und dem „sich gegenseitig auf die Schulter klopfen“. Stattdessen gibt es hier Hass, Leidenschaft, Zusammenhalt, Gewalt, Provokation und vor allem kein Ende, bei dem sich alles wie von Geisterhand fügt.
Die Regisseure Farid Eslam („Yallah! Underground“) und Oliver Waldhauer teilen ihre Dokumentation klassisch in drei Kapitel ein. Zunächst werden dem Zuschauer einzelne Fans der drei verschiedenen und verfeindeten Fußballvereine Istanbuls vorgestellt. Jedwede Zuschauer, die mit dem Sport Fußball rein gar nichts anfangen können, würden hier wohl auch nicht überzeugt werden können, sondern zu mehreren Momenten kopfschüttelnd zusehen, wie Menschen aufeinander losgehen, weil sie einen anderen Verein toll finden. Fußball, zumindest die Liebe zum eigenen Verein ist hier, so erzählt ein Fan, größer als die Liebe zum eigenen Kind. Das ist sicherlich als ein Extremfall zu betrachten, aber um genau solche Extremfälle geht es in dieser Dokumentation. Denn die Politik mit der die Fans später in Berührung kommen, ist ebenso ein Extrem.
Das zweite Kapitel schließlich führt ins Herz der so berühmten Demonstration, als im Gezi-Park in Istanbul die Proteste der Bevölkerung gegen die Politik Erdogans aufkochten und die Polizei mit Geschossen reagierten. Fans der Fußballvereine nahmen an den Demonstrationen teil und wurden als Retter gefeiert, weil sie durch ihre Erfahrungen im Straßenkampf einigen verlorengegangenen Mut mit sich brachten. Mut der Demonstranten, dass sie eine Chance hatten und nicht in die Knie gezwungen würden. Der unzerstörbare Zusammenhalt in Reihen der Ultras ist dabei etwas, was ihre Kraft so übermäßig wirken ließ und genau das, was der türkische Politik-Apparat damals mit Bangen beobachtete. Das eingebundene Archiv-Material, das zum Großteil aus Amateuraufnahmen mittels Handy besteht, zeigt dramatische und spannende Szenen und weiß in den Bann zu ziehen. Manchmal ist die Realität eben spannender als Fiktion.
Was allerdings dann doch ein wenig störend ist, ist die totale Abstinenz von Material-Verarbeitung. Die Dokumentation nimmt einen rein beobachtenden Standpunkt ein und bleibt dabei. Das mag im Hinblick auf die Darstellung der Fans Sinn machen, da man sie für ihre teils chauvinistischen Werte weder verteufeln möchte noch loben darf, erzeugt aber deutliche Leere, wenn es um die Einordnung der Proteste in das größere Geschehen und die Politik Erdogans geht. Gegen Ende erklären die Interviewten, dass die Proteste weniger handfeste Veränderungen gebracht haben, als viel mehr einen psychologischen Effekt auf die Bevölkerung und Demonstranten hatte. Mut wurde geschöpft, Optimismus macht sich breit. Durch die relativ flache Behandlung der verschiedenen Themen (am interessantesten und einsichtsreichsten ist tatsächlich noch die Darstellung der Fan-Kulturen) bleibt am Ende unter dem Strich nicht allzu viel stehen.
Fazit
„Istanbul United“ zeigt ehrliche Einsichten in die Ultra-Gruppierungen der drei großen Fußball-Vereine aus Istanbul und arbeitet auf die teils spektakulären Originalaufnahmen aus der großen Demonstration aus dem Gezi-Park hin. Mit interessanten und charismatischen Interviewten geht man auf das radikale Fan-Dasein ein, das sich durch liebevolle Hingabe zu Gleichgesinnten und unbegründetem Hass gegenüber Andersdenkenden auszeichnet. Wer Fußball-Fan ist, den wird das nicht sonderlich überraschen und der Geschichte folgen können. Wer nicht, der wird hier wahrscheinlich von chauvinistischer Weltfremdheit sprechen. Dass die Dokumentation letztendlich relativ wenig erzählt ist sehr schade, da sie es doch in ihrer technischen Raffinesse durchaus versteht, Atmosphäre zu transportieren.
Autor: Levin Günther