Inhalt
Nach mehr als 17 Jahren Haft macht sich Marvin auf den Weg nach Hause – auf seinem Skateboard und im Trainingsanzug, in dem er als Teenager verhaftet wurde. Daheim in Newhall erwartet ihn seine kranke Mutter in dem heruntergekommenen Haus seiner Kindheit. Schnell merkt Marvin, dass die Bewohner der Kleinstadt seine Tat auch nach so vielen Jahren nicht vergessen haben. Besonders der Flintow-Clan begegnet ihm mit unverhohlenem Hass. Doch Marvin ist bereit, sich den Konsequenzen seiner Vergangenheit zu stellen. Als er alle Schikanen ohne Gegenwehr erträgt, beginnt die junge Delta Flintow ihn mit anderen Augen zu sehen …
Kritik
Mit ihrem Langfilmdebüt Home kreierte Franka Potente (Lola rennt) eine glaubhafte Inszenierung über Vergebung, Reue, Resozialisierung, Doppelmoral, Heimat und Familie. Durch unendliche Weiten Amerikas fährt Marvin (Jake McLaughlin, Safe House), mit einem Jogginganzug gekleidet auf seinem Skateboard auf der Landstraße. Ohne Hektik, hält der Film inne und lässt sich Zeit um die kleinen Dinge des Lebens zu betrachten und die Situation auf sich wirken zu lassen. Diese Ruhe, mit der die Regisseurin die Dinge angehen lässt, fasziniert, weil sie sich traut, das zu zeigen, was ihr wichtig ist, ohne sich Gedanken darüberzumachen, dass der Film zu langsam voranschreiten könnte und ihr Mut wird belohnt, denn sie erschafft mit Home in gewisser Weise ein Kunstwerk.
Vor vielen Jahren sah Franka Potente in der New York Times ein Foto des rothaarigen, tätowierten Sängers Frank Carter und dieses Bild übte eine ungewöhnliche Faszination auf sie aus. Deswegen blieb es jahrelang in ihrem Besitz ohne, dass sie sich Gedanken darüber machte, doch eines Tages fand sie das ausgeschnittene Bild zufällig wieder und es löste etwas in ihr aus und inspirierte sie dazu die Figur von Marvin zu erschaffen. Das Fesselnde an dieser Figur ist seine rohe animalische Männlichkeit mit innewohnender Fragilität. Auf der einen Seite hat Marvin diese brachialen Tattoos und auf der anderen Seite strahlt er eine solche Verletzlichkeit aus, dass man es kaum zu glauben vermag, dass ein Mensch diese beiden Seiten vereinen kann: die zarte Zerbrechlichkeit und unglaubliche Stärke.
Mit der Entdeckung von Jack McLaughlin landete Franka Potente in jeder Hinsicht einen Glückstreffer, weil er ein echter Mensch mit einer echten Vergangenheit ist und kein Vollblutschauspieler, der sich auf eine umfangreiche Rollenstudie begibt, mit dem Ziel sich fremde Gedanken und Empfindungen einzupflanzen. Alles, was Jack empfindet, ist ungekünstelt und echt. Er spielt aus seiner Seele und bringt laut Franka Potente „eine unglaubliche realistische Bodenständigkeit mit.“„Jack ist in gewisser Hinsicht Marvin.“ Er ist nämlich kein gelernter Schauspieler, sondern war früher als Soldat im Irak. Dort diente er vier Jahre und bekam dafür sogar mehrere militärische Auszeichnungen, bevor er als Sicherheitsbeamter bei den Universal Studios zu arbeiten anfing.
Franka Potente hatte nicht nur ein gutes Gespür bei der Auswahl der Schauspieler, sondern bewies auch ein glückliches Händchen als Regisseurin, weil sie von Anfang bis zum Ende der Dreharbeiten ihren Darstellern zu hundert Prozent vertraute und ihnen Freiräume bei der Figurenentwicklung ließ. Jack McLaughlin hat nie vorher geprobt, weil es nicht seine Art war und sie akzeptierte es bedingungslos, da er einfach nicht der Typ dafür war und sie es sofort erkannte. Trotzdem schaffte er es mit seiner Darstellung von Marvin bei manchen Szenen alle am Set zum Heulen zu bringen. In einem Interview erzählte Franka Potente: „Jack war berührend. Er ist der Typ Schauspieler, der eigentlich immer hundert Prozent gibt. Der kann gar nicht anders, der ist völlig ungefiltert. Das hatte schon so eine Wucht. Ich habe ihn kaum geführt, ich habe ihn eher die ganze Zeit beschützt, weil man irgendwann denkt: Verausgab dich nicht so!... Alles, was da am Tag des Drehs mit voller Wucht kam, war wie ein Geschenk. Da kamen nie fünfzig Prozent, das kam immer volle Kanne.“
Auch Kathy Bates (Misery) spürte die gewaltige Kraft, welche Jack McLaughlin aufgrund von seiner eigenen Lebenserfahrung mitbrachte und ließ sich von seiner Authentizität mitreißen. Nicht, dass die Oscarpreisträgerin es nötig gehabt hätte und dennoch war sie bodenständig genug, um zu wissen, dass sie selbst von Jacks Energie und Stärke profitieren kann. In einem Interview berichtete sie, dass sie Jack zuvor nicht treffen wollte, weil die Figur, die er verkörperte, lange im Gefängnis war. Doch kaum trafen sie sich am Set, entwickelte sich sofort echte Chemie zwischen den beiden. Kathy hat im wahren Leben keine Kinder, doch sie begab sich auf diese Reise und fühlte sich tatsächlich so, als wäre sie Marvins Mutter. Sie sprach davon, dass sie bei den Dreharbeiten Gold gefunden hätten und, dass Franka Potente eine Reihe kluger Entscheidungen getroffen und Änderungen am Drehbuch vorgenommen hätte. So entstand diese einzigartige und fragile Mutter-Sohn-Beziehung auf der Leinwand.
Nach so vielen Jahren im Gefängnis ist es nicht verwunderlich, dass Marvins Mutter in ihm zunächst einen Fremden sieht, doch er lässt sich nicht von ihrer Zurückhaltung abschrecken und bleibt an ihrer Seite, auch wenn er sich für sie nicht mehr wie ihr Mavin anfühlt und sie ihn zunächst von sich wegstößt. Ganz egal, mit welcher Feindseligkeit die Menschen in seinem Heimatort ihm begegnen, Marvin bleibt bei seiner krebskranken Mutter und denkt nicht einmal im Traum daran, sein Zuhause wieder zu verlassen. Er möchte nur das Richtige tun und in die Augen seiner Mutter sehen und wissen, dass sie ihn nicht hasst. Doch es ist nicht leicht zu verzeihen, vor allem nicht, wenn derjenige, der sich Vergebung wünscht, einem wie ein Fremder vorkommt.
Vergebung ist die zentrale Thematik des Films. „Nicht zu vergeben wird euch selbst um die Vergebung bringen!“, predigt der Pastor in der Kirche. Doch auch wenn die meisten Kirchengänger in Marvins Heimatort den Predigten immer aufmerksam zuhören, heißt es noch lange nicht, dass sie auch danach leben. Jeder erhofft sich in der Sonntagspredigt, die Absolution für seine Taten zu erhalten, doch nicht jeder ist bereit, einem Menschen, der seine Taten aufrichtig bereut, zu vergeben. Jeder kennt den Resozialisierungsgedanken und glaubt an die zweite Chance, doch niemand möchte, dass ein ehemaliger Schwerverbrecher in seiner Nähe wohnt. Hier zeigt sich die Heuchelei des Ganzen und mangelnde Fähigkeit zur Vergebung. Mit voller Wucht trifft der Hass Marvin und trotzdem wehrt er sich nicht dagegen. Er stellt sich dem Hass, mit dem Bewusstsein, dass er ihn verdient und er bereut, das, was er getan hat aus tiefstem Herzen.
Doch zum Glück sind nicht alle Menschen in seinem Ort so hasserfüllt und an Marvins Beziehung zu Delta (Aisling Franciosi (The Fall) erkennt man, dass man lernen kann, Vertrauen aufzubauen und zu verzeihen. Delta hätte eigentlich jeden Grund gehabt, Marvin zu hassen, denn das Verbrechen, das er vor Jahren begangen hatte, betraf ihre eigene Familie und doch überwindet sie die ganzen Hassgefühle und beginnt dem Menschen, der Marvin jetzt ist zu vertrauen und sieht in ihm nicht mehr das Monster von damals, das diese schreckliche Tat begangen hatte. Franka Potente kreierte mit ihrem Drehbuch eine originelle und gut durchdachte Geschichte, die den Zuschauer berührt und viele Fragen über die wahre Natur der Menschen aufwirft.
Ist der Glaube an die „Zweite Chance“ echt oder nur ein Märchen, dass allen aufgetischt wird, weil es sich gut anhört? Wenn man an die Resozialisierung, Vergebung und Menschlichkeit glaubt, warum ist es so schwer jemandem zu verzeihen, der seine Taten aufrichtig bereut? Warum kann Marvin sich von der Etikettierung eines Schwerverbrechers nicht so einfach lösen? Mit Marvins Beziehung zu Delta hat man einen Lichtdurchblick und einen Hoffnungsschimmer, dass man Vertrauen neu erlernen kann. Wenn Marvin Delta fragt: „Vertraust du mir?“, und sie sich daraufhin bei einer Vertrauensübung in seine Arme fallen lässt, dann fühlt man, die ganze Tiefgründigkeit dieses Films, der den Zuschauer mit seiner Echtheit berührt.
Der Film zeigt eine vielschichtige Geschichte, doch lässt leider eine einzige Frage nicht beantwortet: „Warum beging Marvin damals dieses schreckliche Verbrechen?“ Die Gründe dafür werden angedeutet, doch nicht direkt offenbart. Vermutlich würde es zu weit gehen sie anzuführen. Tatsächlich stehen Marvins Gefühle und aufrichtige Reue im Vordergrund, man lässt ihn nicht über die Tat von damals ausführlich reden, sondern zeigt nur, was er fühlt und dank der überzeugenden Darstellung von Jack McLaughlin kann man es sogar nachempfinden.
Fazit
„Home“ ist ein unglaublich stark inszenierter Film über Vergebung, Reue, Resozialisierung, Doppelmoral, Heimat und Familie. Der Film berührt einen auf eine Art, die man nie für möglich gehalten hätte und fasziniert mit der grandiosen Darstellung von Jack McLaughlin, der zugleich Verletzlichkeit und Stärke ausstrahlt. „Home“ ist bewegend, vielschichtig und authentisch.
Autor: Yuliya Mieland