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De Sicas 'Fahrraddiebe' gilt als einer der wichtigsten Filme des Neorealismus. Anhand einer Parabel zeigt er die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft.
Kritik
Fahrraddiebe von Vittorio De Sica gilt neben dessen zwei Jahre vorher erschienen Schuhputzer zu den wichtigsten, filmischen Beiträgen des italienischen Neorealismus, über die Landesgrenzen hinaus mit großer Wahrnehmung bedacht. Etliche internationale Filmpreise, u.a. der Oscar als „Bester fremdsprachiger Film“ waren der verdiente Lohn. Die verzweifelte, schier hoffnungslose Odyssee eines eigentlich grundehrlichen, tüchtigen, aber um seine Existenz bangenden Mannes mit seinem kleinen Sohn im Schlepptau durch die Straßen der Hauptstadt auf der Suche nach seinem gestohlenen, klapprigen, aber für den Familienunterhalt elementar wichtigen Drahtesels wird zum aufklärenden, kritischen, scharf beobachtenden und immer menschlichen Blick auf die soziale Realität eines von den Nachbeben des Faschismus wie eines verlorenen Krieges gebeutelten Landes.
Für den zweifachen Familienvater Antonio (Lamberto Maggiorani; Achtung! Bandit!) ist die Anstellung als Plakatkleber die ersehnte Chance auf einen Weg aus den Existenzsorgen. Wie so viele willige, aber arbeitslose Männer kämpft er in einem verarmten Italien täglich ums nackte Überleben, nun scheint alles gut zu werden. Zwingend erforderlich für den Job: Ein eigenes Fahrrad. Das besitzt er, nur hat er es erst kürzlich beim Pfandleiher hinterlegt. Um es auslösen zu können müssen er und seine Frau Maria sogar ihre Bettwäsche verpfänden, aber die Aussicht auf ein geregeltes Einkommen rechtfertigt jedes Opfer. Bezeichnend für die Situation der Arbeit(slosen)erklasse: Vor dem Verpfändungsschalter nimmt die Schlange kein Ende, beim Auslösen des Fahrrades genießt Antonio Ellenbogenfreiheit, hier herrscht gähnende Leere, während sich die Regale des Lagers in schwindelerregende Höhe türmen.
Voller Tatendrang startet Antonio in den ersten Arbeitstag, der ein abruptes Ende nimmt: Sein Fahrrad wird ihm vor seinen Augen gestohlen, der Dieb entkommt im Getümmel des Verkehrs. Plötzlich steht er wieder vor dem Nichts, vom Himmel direkt wieder in die Hölle. Eine Anzeige bei der Polizei erntet nur ein müdes bis genervtes Lächeln, schließlich gehören derlei Delikte zum Alltag und gelten als nicht ermittlungswürdig, die Aufklärungsrate geht gegen Null. Wie auch, wo doch alle nur von der Hand in den Mund leben müssen und gestohlene Ware dementsprechend schnell in bare Münze verwandelt werden muss. Auch wenn es hoffnungslos erscheint, Antonio bleibt gar keine andere Wahl: Am nächsten Tag finden sich er und sein 8jähriger Sohn Bruno auf dem maximal semi-legalen, riesigen Fahrrad(Schwarz)markt wieder, um dort eventuell die Existenzgrundlage wiederzufinden. Mit dem Mut der Verzweiflung stürzen sich das autoritär-entfremdete Vater-Sohn-Gespann in den Trubel und bekommen sogar den nicht zu vermutenden Strohhalm zu fassen, müssen aber feststellen, dass es nicht nur für sie eine Frage von Fressen oder Gefressen werden ist. Und das der Begriff von „Recht“ und besonders „Gerechtfertigt“ sich in solchen Situationen als äußerst dehnbar herausstellt.
Vittorio De Sica gewährt einen entlarvenden, vielseitigen und ambivalenten Einblick tief ins Herz von sozialer Schieflage und gleichzeitig ungeschönter Realität eines Landes, das nach Jahren des Klassenkampfes zwischen Kommunismus und Faschismus fast brach liegt. In der sich die Gegensätze an jeder Ecke kreuz und quer über den Weg laufen und sich doch viele eigentlich auf Augenhöhe bewegen, da alle nur versuchen irgendwie über die Runden zu kommen. Das sorgt für fast lächerliche, auf jeden Fall schwer absurde Momentaufnahmen wie Zwangsgottesdienste für Bedürftige, die mit einer warmen Mahlzeit in Aussicht sich aber bitte sehr nicht einfach so von der heiligen Messe zu entfernen haben (auch Barmherzigkeit hat ihren Preis und erfordert Eigeninitiative, egal wie gezwungen), wie für demaskierend dargestellte Gesellschaftsstrukturen, langsam heruntergeschält bis auf den gemeinsamen Nenner.
So unfair und mitfühlend das Leid des stellvertretend ausgewählten Antonio geschildert wird, umso verständlicher werden nicht nur seine Rahmenbedingungen offenbart. Denn Fahrraddiebe verlässt sich nicht darauf, nur Mitleid für die im Mittelpunkt stehende Partei anzubieten, in einem Staat ohne echtes soziales Auffangnetz, erschütternder Perspektivlosigkeit und einer heillos überforderten Regierung, sondern eine Situation – eher eine daraus resultierende Kettenreaktion – zu reflektieren, an deren Ende es nur eine „logische“ Konsequenz geben kann. Das dieser Film genau dann seinen aus realistischen Fakten lange zurückgehaltenen Hoffnungsschimmer so wunderbar und herzlich anbietet, ist nicht gleichzusetzten mit einfacher Anbiederung, es entsteht tatsächlich aus dem Moment und bildet die durchaus versöhnliche Aussage des Gesamten. Wenn wir nichts haben, haben wir wenigstens noch uns. Auch wenn wir es lange nicht bemerkt, uns zwischenzeitlich sogar beinah aus den Augen verloren oder gar gegeneinander agiert haben, am Ende, wenn jeder falsche (männlicher) Stolz nicht mehr aufrecht erhalten werden kann, ist das doch am wichtigsten.
Fazit
Ein kluges, trotz seiner Tristes warmherziges, dabei aber keinesfalls beschönigendes (ganz im Gegenteil) Zeit- und Gesellschaftsportrait, welches den Mut aufbringt akute, soziale Missstände offen darzulegen und es dennoch schafft, nicht in Zynismus oder Pessimismus zu ersaufen. Was man durchaus verstehen könnte. Ein stolzer Schritt in die richtige Richtung, weit weg von moralisierender, verlorener Bodenhaftung.
Autor: Jacko Kunze