Inhalt
Lav Diaz zeigt in diesem gut zehnstündigen Film die evolutionäre Entwicklung einer philippinischen Familie in den 70ern und 80ern und trifft so Aussagen zum damaligen Marcos-Regime.
Kritik
„Es ist Zeit“ ließ der Online-Streaming-Service Mubi verlauten, als er den zehneinhalbstündigen Film Evolution of a Filipino Family in sein erlesenes Sortiment aufnahm. Ein 619 Minuten langer Film von dem philippinischen Regisseur Lav Diaz, der mit seinen Langfilmen nicht nur stets an Rekorden kratzt, sondern auch auf der ganzen Welt renommierte Festivalpreise einheimst. Sei es in Berlin, sei es in Venedig, undundund. Natürlich bleiben seine Filme einem breiten Publikum weitestgehend verwehrt. Dabei wirken seine gut vierstündigen Filme schon fast wie ein knackiger 90-Minüter. Es ist Zeit, und diese wird dabei natürlich im doppelten Sinne gemeint. Nicht nur als Aufforderung für den Zuschauer, dass er sich nun aber mal endlich aufraffen sollte. Sondern auch, weil die Zeit einer - wenn nicht gar der - Schlüssel zu Diaz’ Werken ist. Dessen Filme behandeln nämlich vor allem eines; und das ist Zeit.
Und tatsächlich hatte Mubi natürlich recht. Es ist Zeit; nicht nur, um sich nun einmal Diaz zu widmen, sondern auch, um diesen Text zu schreiben. Zehneinhalb Stunden Film, dazu mehrere Stunden, in denen weiterhin über den Film sinniert wird. Zeit, die es kostet, diese Zeilen zu tippen und Zeit, die vergeht, ohne dass man es mitbekommt, weil man so sehr in seinen Gedanken verschwunden ist. Um Filme wahrzunehmen braucht man für jede Kunst die beiden Dimensionen von Raum und Zeit. Während der Raum bei der Rezeption von Filmen relativ fest definiert ist, sprengt Diaz mit seiner Arbeit letztere Dimension und schafft damit ein anderes Kino. Eines, das den Zuschauer ebenso betrifft, zu ebenso großen Veränderungen führen kann, wie die Figuren sie im Film durchleben und -leiden. Wann hat man schon einmal über zehn Stunden verbracht, ohne etwas Bemerkenswertes gedacht, gesagt oder getan zu haben?
Natürlich verkommt die Zeit dadurch zu einem Charakter, zu einem wichtigen Standbein des filmischen Werkes. Man kann Evolution of a Filipino Family nicht bewerten und analysieren, ohne der Länge des Films Beachtung zu schenken. Sie ist elementar. Doch bevor darauf weiter eingegangen werden soll, lohnt es sich - für jene Leserin und jenen Leser, die noch nicht Kontakt mit Diaz’ Filmen hatten - einen leichten Überblick zu verschaffen. Der Film wurde von Lav Diaz in einem Zeitraum von über zehn Jahren in schwarzweiß gedreht und soll ein Porträt einer Familie schaffen, die in den Jahren 1971 bis 1987 durch allerlei Auf und Abs getrieben werden. Dabei soll diese Familie stellvertretend für die Geschichte des Landes unter der Marcos-Diktatur gezeigt werden. Bis das erste Wort des Films fällt, vergehen ein paar Minuten. Doch dann stellt eine der Töchter der Familie sich und ihre Liebsten vor. Unterstützt wird ihre Begrüßung von einem sagenhaften Bild; ein Mensch reitet langsam davon, im Hintergrund geht die Sonne unter und spricht eine wortlose Drohung aus. Lav Diaz’ Filme sind - vorsichtig ausgedrückt - nicht die optimistischsten.
Ab da macht Diaz schnell klar, wie der Film wohl ablaufen wird; er wohnt schlicht den Geschehnissen der Familie bei; beim Schlafliedsingen, beim Arbeiten, Ernten und Entspannen, beim Beobachten des Meeres, beim Spielen, beim Wandern und Suchen, beim Leiden, Leben und Weinen. Der Film, der nahezu ausschließlich in Plansequenzen und Totalen gedreht ist, beginnt jede einzelne Einstellung mit ein bisschen Vorlauf, bevor die Figuren ins Bild kommen. So hat der Zuschauer meist um die zehn Sekunden Zeit, um sich mit der Umgebung vertraut zu machen, sie kennenzulernen und zu studieren und sich in ihr zu bewegen. Tatsächlich hilft das dabei, den Zuschauer noch stärker in den Film und die Geschichte zu integrieren. Weiterhin zeigt Diaz damit eine gewisse Abneigung zu dem durchgetakteten Kino der westlichen Hemisphäre, wo sich der „Realismus“ der Filme dennoch immer dem Geduldsfaden des Produzenten unterordnen muss. Es ist eine andere Art, mit der das Diaz-Kino mit dem Zuschauer kommuniziert; es ist unterbewusster.
Wem der Begriff des „Slow Cinema“ etwas sagt, wer schon einmal einen Film jenseits der 200 Minuten geguckt hat, bei dem es sich zudem um kein Action-Abenteuer-Produkt handelt, der wird wohl schon ein ungefähres Bild von Diaz’ Arbeit haben. Für jeden anderen ist es wohl nicht einfach einfühlbar. Vielleicht nicht einmal einfach zu verstehen, weshalb man so viel Zeit mit einem Werk verbringen sollte. Was ist die Intention des Regisseurs, wenn er seinen Film derart in die Länge zieht? Da merkt man wieder einmal, dass man immer eine Begründung braucht, sobald man abseits der Norm agiert. Vielleicht ist die Antwort ganz einfach und die Intention steckt im Titel selbst. Evolutionen sind schließlich nur über einen größeren Zeitraum hinweg erkennbar. Und das ist auch das Ziel des Films - so zeigt der Film doch, wie die Grundsituation der Familie sich verändert, ebenso wie die personelle Konstellation. Schicksalsschläge werden erlitten, Menschen verlieren ihre Sinne und Hoffnungen.
Diaz fühlt sich stets mit Behutsamkeit an seine Figuren heran, prescht aber dann auch teilweise mit dickem Sarkasmus und einem weinenden Auge in all den Witzen und der grotesken Realität nach vorn. Da gibt es eine Szene, in der sich ein kleiner Junge ein Radio erbettelt und in der darauf folgenden ein Tonstudio, wo ein wichtiges Hörspiel für das Radio aufgenommen wird. Aufnahmen, deren Inhalt beschämend, wütend, menschenverachtend, selbstherrlich sind. Der kleine Junge gibt sein letztes Hemd, um seine Gehörgänge mit Scheiße vollsuhlen zu lassen. Vielleicht ist das eine der deutlichsten Aussagen, die Diaz hier trifft. Es ist dabei stets überraschend, wie klar und deutlich der Regisseur in seiner Filmsprache bleibt. Der Inhalt, seine Gedanken und jedwede Kritik sind stets ersichtlich - vielleicht auch, weil er selten allzu komplex wird. Diaz sucht die Tiefe lieber in der Breite, als in sich selbst. Das wäre einer der größten Kritikpunkte, die man dem Film machen könnte.
Inszenatorisch-visuell sind die langen Einstellungen des Films oft große Klasse; Lav Diaz ist sicherlich kein Stümper, der die Filmwelt mit seinem langen Kram vollmüllt; er schafft besondere Momente. Manche Longtakes offenbaren dabei erst auf den letzten Metern eine Wahrheit, oder einen speziellen Effekt, für den sich das Warten lohnt. In einer Einstellung zum Beispiel zündet eine Frau den Kamin an. Erst nach zwei Minuten kommt der lohnende Effekt, wenn der Rauch aus dem Kamin durch den Schein der Lichtquelle im Bild zieht und einen mystischen Raum erschafft. Oder wenn er Opfer des zerstörerischen Terrors von Marcos Regime zeigt. Kalte Körper, erschossene Menschen, tote Kinder, die im Schoß ihrer blutverschmierten Mutter liegen, die ihnen über das Haar streichelt. Traumatisierende Archivaufnahmen in Granit. Diaz aber übermittelt diese Gewalt nicht nur über die Bilder, sondern auch über die Reihenfolge. Hitchcock nutzte die Montage als Messerstecherei, Diaz nutzt sie als tödlichen Schuss in den Rücken.
Fazit
Der Film „Evolution of a Filipino Family“ von Lav Diaz ist ein zehneinhalbstündiger Brocken in schwarzweiß. Er zeigt dabei in aller Breite die Entwicklungen einer Familie und bedient sich immer wieder starker Metaphern. Diese sind jedoch zum Großteil so eindeutig und simpel gehalten, dass es sich nicht wirklich lohnt, darüber zu philosophieren. Das ist schade, fällt bei einem Film dieser Länge dann doch zu einigen Momenten auf, dass man gerne mehr Futter für’s Hirn hätte. Die Laufzeit ist schließlich nur ein weiteres Stilmittel des Films und nicht die letzte Offenbarung des Kinos. Statt weiter in die Tiefe der Figuren zu gehen, versucht Diaz lieber, in der Breite die Wahrheit zu finden - und versandet damit hier und da etwas hilflos. Und dennoch handelt es sich bei „Evolution of a Filipino Family“ mitnichten um einen schlechten Film. Nur leider vermag er es nicht, vollends von Konzept und Inhalt zu überzeugen.
Autor: Levin Günther