Als wäre Die Unschuld an und für sich nicht schon ein Seherlebnis von besonderer Bitterkeit, potenziert sich diese Note noch um ein Vielfaches, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass dieser das große Abschiedswerk vom noch größeren Luchino Visconti (Tod in Venedig) geworden ist. Sein Vermächtnis. Die Premiere bei den Filmfestspielen von Cannes konnte der italienische Meisterregisseur indes nicht mehr miterleben, er starb am 17. März 1976 in Rom. Über seinen bevorstehenden Tod war sich Visconti indes vollkommen im Klaren, nach einem Schlaganfall war er gezwungen, die Filme Gewalt und Leidenschaft und Die Unschuld aus dem Rollstuhl heraus zu inszenieren, bei Letzterem allerdings gestaltete sich sein Gesundheitszustand derart kritisch, dass niemals Gewissheit darüber herrschen konnte, ob Visconti wirklich in der Lage, diesen fertigzustellen.
Es gelang ihm, wenn auch unter horrenden Anstrengungen, und natürlich dräut das sich allmählich anbahnende Ableben Viscontis in jeder Einstellung von Die Unschuld. In gewohnt opulentem, schwelgerischem, ja, sogar verschwenderischem Dekor nimmt sich Visconti dem Roman L'innocente von Gabriele D'Annunzio an und konzentriert sich auf die Dreiecksbeziehung zwischen dem Grafen Tullio Hermil (Giancarlo Giannini, Hannibal), seiner Frau, der Gräfin, Giuliana (Laura Antonelli, Malizia) und seiner Affäre Teresa Raffo (Jennifer O'Neill, Die sieben schwarzen Noten), aus deren Kreis sich die Grundzüge des Faschismus herausbilden werden. Vorlagengeber D'Annunzio zählte indes zu den einflussreichen Mentoren Benito Mussolinis, seine Geschichten über die Massenmobilisierung einzelner Führer, das ideologische Konzept anarchischer Herrschaft, seine Vorstellung des virilen Gottmenschen und der Anmut des Schreckens begeisterten den Diktator und seine Schwarzhemden über alle Maßen.
Wo bereits vorherigen Filme von Luchino Visconti, wie zum Beispiel Der Leopard und Ludwig II., durch ihr pompöses Handwerk überwältigten, konnte man in diesen immer noch die Empathie des Regisseurs erkennen, der voller Melancholie und Gewogenheit auf den Untergang von Epochen und Persönlichkeiten blickte. Mit Die Unschuld erwartet den Zuschauer nun unter diesem Gesichtspunkt etwas anderes: Visconti geht auf Distanz, von Minute zu Minute mehr und bestimmter, die üppigen Kostüme, die anmutigen Interieurs, die dekorative Pracht, mit der hier durchgehend aufgefahren wird, münden zusehends in einem Ausdruck ästhetischer Starre. Eine Bewegungslosigkeit auf der Oberfläche, die sich im nächsten Schritt auch auf die Beziehungen der Protagonisten übertragen lässt, die Visconti mit dem kältesten Skalpell seziert, welches er in der Instrumentenschublade finden konnte. Alles hier ist reiner Förmlichkeit gewichen.
Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist Tullio, ein Aristokrat, kultiviert und distinguiert, immer an gesellschaftliche Zwänge erinnernd, aber selber so weit von sich selbst ergriffen, dass Anstand und Brauchtum für ihn keinerlei Rolle mehr spielen. Seine Ehe ist nur noch ein Aushalten und Ertragen, seine Liebschaft mit Teresa hat ihn ihm angeblich ein Feuer der Leidenschaft entfacht. In Wahrheit aber ist dieser Mann nur darauf aus, Bestätigung zu erfahren. Ein despotisches, besitzergreifendes, egoistische Scheusal, welches sich dazu entschieden hat, die volle Verantwortung über sein Tun zu übernehmen, um sich von keiner höheren Instanz und keinem allgemeinen Moralkodex bestimmen zu lassen. Viscontis Abrechnung mit der Belle Époque ist auch ein Mahnruf für die Gefahren toxischer Männlichkeit, deren selbstgerechtes, machtgieriges Wesen sich verselbständigen und die Welt in einen braunen Abgrund ziehen kann.