Inhalt
Die in Montreal aufgewachsenen Geschwister Jeanne und Simon erfahren bei der Testamentseröffnung ihrer Mutter, dass sie einen Bruder haben. Die beiden sind schockiert. Der Notar, ein Freund ihrer Mutter, die über ihre Vergangenheit immer geschwiegen hat, übergibt ihnen zwei Briefe, einen an den Bruder, einen an den Vater gerichtet. Jeanne will herausfinden, wer Vater und Bruder sind, Simon dagegen die Vergangenheit ruhen lassen. So bricht Jeanne allein auf Spurensuche in den Nahen Osten auf und deckt ein schreckliches Detail nach dem anderen ihrer vom Krieg bestimmten furchtbaren Familiengeschichte auf.
Kritik
Die Filmographie von Denis Villeneuve (Maelström) zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass die einzelnen Werke alleinstehend für sich betrachtet eine hohe Qualität aufweisen, sondern auch durch eine facettenreiche Vielseitigkeit, mit der sich der Regisseur offenbar in jedem Genre sofort zurechtfindet. So hat Villeneuve nach seinem Sprung nach Hollywood mit Prisoners und Sicario mitreißende, atmosphärisch dichte Thriller gedreht, die handwerklich an David Fincher (Sieben) und Michael Mann (Heat) erinnern, während man bei dem verwirrenden Psycho-Puzzle Enemy unweigerlich an David Lynch (Blue Velvet) erinnert wird. Bevor er sich allerdings in die USA begab, schuf der Regisseur mit Die Frau die singt – Incendies ein intensives Drama, das sich langsam entfaltet, schließlich mit voller Wucht einschlägt und weitreichende Folgen nach sich zieht.
Die beiden Zwillingsgeschwister Jeanne und Simon empfangen den letzten Willen ihrer verstorbenen Mutter Nawal, zu der die beiden in den letzten Jahren vor dem Tod der Frau ein schwieriges Verhältnis hatten. Nawal hat in den letzten fünf Jahren nicht nur kein einziges Wort mehr gesprochen, auch ihr Nachlass gibt den beiden Geschwistern Rätsel auf. So erfahren Jeanne und Simon, dass sie noch einen weiteren Bruder haben und werden beauftragt, ihrem eigentlich totgeglaubten Vater und dem unbekannten Bruder jeweils einen Brief zu überreichen. Erst wenn sie das erledigen, akzeptiert die Mutter ein respektvolles Begräbnis. Ansonsten möchte sie mit dem Gesicht nach unten begraben werden, ohne einen Grabstein mit ihrem Namen darauf.
Dieser Einstieg in die Geschichte ist der Auftakt zu einer mysteriösen Spurensuche, bei der sich Jeanne auf eine Reise in die Vergangenheit begibt, während ihr Bruder längst abgeschlossen hat und den letzten Willen der Mutter ignorieren will. Villeneuve inszeniert den Recherche-Trip von Jeanne als ruhiges Erforschen von unklaren Fragen, schmerzlichen Lücken und regelmäßigen Sackgassen. Die junge Frau stößt immer wieder auf Abweisungen, bekommt weitere Auskünfte verweigert und fragt sich fortan, was ihre Mutter überhaupt für ein Mensch gewesen sein muss, wenn alleine die bloße Erwähnung ihres Namens für Unruhen, laute Diskussionen und raue Reaktionen sorgt.
Durch Rückblenden, die der Regisseur parallel in die Haupthandlung einflechtet, ergibt sich nach und nach ein Bild von Nawal, die in ihrer Jugend im nahen Osten zwischen die Fronten eines Bürgerkriegs gerät. Die Frau die singt – Incendies zeichnet in diesen Szenen immer wieder grausame Bilder, in denen unbedarfte Zivilisten und kleine Kinder erschossen sowie Menschen gefangen genommen und auf unvorstellbare Weise gefoltert werden. Dabei verzichtet Villeneuve auf explizite Details, blendet brutale Gewaltspitzen vorzeitig ab und lässt vieles durch Erzählungen und Andeutungen im Kopf des Betrachters entstehen.
Je weiter die Handlung voranschreitet, umso mehr wird der Zuschauer vom Film förmlich am Kragen gepackt. Im letzten Drittel mutet das Werk einem viel zu, so manchen werden die erschütternden, herzzerreißenden Enthüllungen, überraschenden Twists und extremen Verwicklungen, bei denen der Zufall mehr als einmal etwas überkonstruiert zuschlägt, womöglich sogar zu viel sein. Trotz allem inszeniert Villeneuve diese Entwicklungen und Konsequenzen nie als sensationslüsterne Paukenschläge, sondern begegnet den herben Schicksalsschlägen und zutiefst schockierenden Erkenntnissen mit zutiefst menschlichen Gesten und einfühlsamen Verständnis, wodurch er seine gebeutelten und mitunter verabscheuungswürdigen Figuren mit Würde und Respekt behandelt. Am Ende verhandelt Die Frau die singt – Incendies seine tiefschürfenden Fragen nach Vergeltung, Schuld und Erlösung mit aufrichtiger Trauer, stiller Hoffnung und versöhnlicher Erfüllung.
Fazit
Die Frau die singt – Incendies ist ein kraftvoll inszeniertes, überwiegend ruhiges Drama, das über zwei verschiedene Zeitebenen hinweg die Konflikte, offenen Fragen und Mysterien unterschiedlicher Generationen innerhalb einer Familie behandelt. Auf der Zielgeraden mutet Regisseur Denis Villeneuve seinen Zuschauern mit schockierenden Überraschungen und etwas konstruierten Verbindungen sehr viel zu, doch sein einfühlsamer Umgang und respektvoller Ton lassen den Film nie aus der Spur geraten. Ein erschütternder, mitreißender Brocken, dem man sich stellen sollte.
Autor: Patrick Reinbott