Inhalt
Alain Leroy, ein Pariser Bohémien, scheint über alles zu verfügen, was ein angenehmes Leben ausmacht. Doch Alain hat mit seinem Leben abgeschlossen und sieht im Freitod seinen letzten Ausweg. „Das Irrlicht“ ist ein bewegender Film, dessen Stimmung mit der Musik Erik Saties untermalt wird. Auf der Biennale 1963 wurde er mit dem Spezialpreis der Jury und dem Preis der Filmkritik ausgezeichnet.
Kritik
Paris. Die Stadt der Liebe und Romantik, ein Ort für frisch verliebte Pärchen und lebensfrohe Träumer. Ein Lächeln im Café, ein Picknick an der Seine, ein Kuss vor dem Eifelturm. Doch nicht für Alain (Maurice Ronet), der Paris nur als die Stadt der Sünde bezeichnet. Das war freilich nicht immer so, als gutaussehender und lebensfroher junger Mann hat er sich einst ins aufregende Nachtleben gestürzt und fortan Tag für Tag, Woche für Woche und Jahr für Jahr den zahlreichen Vorzügen einer Stadt gefrönt, die niemals schläft. Dem Alkohol war er dabei ebenso verfallen, wie er den schönen Damen angetan war, die er jedoch nie lieben, sondern höchsten besitzen konnte. Von diesem Glanz vergessener Tage ist wenig übrig. Alains Züge sind eingefallen, seine Augen glanzlos und ein Lächeln huscht ihm nur sehr selten übers Gesicht. Er ist trocken, lebt seit einem halben Jahr in einem Sanatorium und laut Aussage seines betreuenden Arztes vollkommen geheilt. Doch er weiß es besser, von seiner Existenz überdrüssig beschließt er beinahe nebensächlich, dass morgen der Tag sein wird, an dem er stirbt.
Seine letzten 24 Stunden will er deshalb in Paris verbringen, der Stadt, die er einst geliebt und die ihn so frühzeitig verbraucht hat. Doch sein Besuch ist nicht das von Freunden und Bekannten erhoffte Wiedersehen, sondern schlichtweg ein Abschied. Zwar räumt Alain ausreichend Platz ein, sich erneut vom Leben überzeugen zu lassen, doch letztlich weiß er ebenso wie wir, wie es enden wird. Die Art und Weiße wie er Dinge betrachtet reicht für diese Erkenntnis eigentlich schon aus und so sagt er später selbst, dass er sich außerstande sieht, etwas wirklich anzufassen. Das Irrlicht ist das Porträt eines gebrochenen Mannes, der sich seiner selbst schmerzlich bewusst ist. Als Verschollener kehrt er zurück in eine Welt, die vormals seine eigene war, aber heutzutage nicht mal mehr das geringste Zeichen des Wiederkennens aus seinen Gesichtszügen locken kann. Der Versuch der Eingliederung, seine vergebliche Hoffnung erneut vom Leben überzeugt zu werden, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn die Kälte und den Egoismus seines Umfeldes hat er angesichts seiner eigenen Probleme unlängst als solche erkannt.
Louis Malle (Die Liebenden) fängt Alains Weg zur Sterbebank mit erstaunlicher Ruhe ein. Seine Regie ist unscheinbar, geradezu organisch scheint die Kamera an der Hauptfigur zu haften. Nur selten kommt es zu dynamischen und schnell geschnittenen Momenten, die meistens an persönlichen Tiefpunkten eingesetzt werden, um die innere Zerrissenheit und den Schmerz Alains zu verdeutlichen. Diese kurzen Momente sind ebenso wirkungsvoll wie der sehr sporadisch eingesetzte Soundtrack, der oftmals nur aus leisen Streichern besteht und im Hintergrund als optimale Untermalung fungiert. Obgleich Das Irrlicht formal zurückhaltend gestaltet ist, ist Malles Regie nie unsichtbar oder unbedacht. Die ruhigen Kamerabewegungen stehen im Einklang mit Alains Lethargie und sind stets bereit uns mehr über dessen Charakter zu berichten. Wahrscheinlich ist der Film auch deshalb so einnehmend, weil Form und Inhalt in perfekter Synergie eine Einheit bilden und stets in die gleiche Richtung steuern.
Nach dem Film erscheint einem vieles unverständlich, ja geradezu unmöglich. Allein der Gedanke, Paris sei als Stadt nicht etwa schwarz-weiß, sondern farbig, ist absurd, steht der französischen Hauptstadt die Tristesse der unterschiedlichen Graustufen doch so ausgezeichnet. Überhaupt scheint man just nach dem Abspann selbst in diese leicht eigensinnige Melancholie des Films einzutauchen und mehr oder weniger ziellos vor sich hin zu philosophieren. Leicht abschütteln lässt sich Das Irrlicht wahrlich nicht, dafür ist er zu immersiv und eindrucksvoll. In seinem Abschiedsbrief schreibt Alain, dass er einen unauslöschlichen Makel auf uns hinterlässt. In diesem Moment spricht der Film uns direkt an, denn fortan soll Alains Schicksal ein Teil von uns sein…uns stets daran erinnern, dass wir lebendig sind und auch die traurigen Momente im Leben schätzen sollten, weil wir überhaupt im Stande dazu sind, sie zu fühlen.
Fazit
Mit „Das Irrlicht“ wurde Louis Malle unsterblich. Die Adaption des gleichnamigen Romans gehört zu den depressivsten und pessimistischsten Werken der Filmgeschichte und sucht in seiner Perfektion vergebens nach Konkurrenz. Unweigerlich steuert der Film dem Tod entgegen und wenn der Abspann über den Bildschirm läuft, dann bleiben wir sprachlos zurück – überfordert von diesem so unwirklich erscheinenden Leben.
Autor: Dominic Hochholzer