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Mit dem Dokumentarfilm Crumb liefert Regisseur Terry Zwigoff ein erhellendes Porträt des legendären Underground-Comix-Künstlers Robert Crumb mit Einblicken in die seelischen Abgründe seines Lebens und das seiner Familie.
Kritik
Wer ist Robert Crumb? Dieser Frage geht Regisseur Terry Zwigoff (Ghost World) in seiner Dokumentation Crumb aus dem Jahr 1994 auf den Grund, indem er sich über mehrere Jahre hinweg Zugang zum Privatleben des kontroversen, exzentrischen Künstlers verschaffen durfte. Berühmt wurde der in Philadelphia aufgewachsene Crumb durch seine schrägen Comics und Illustrationen, mit denen er sich rasch eine wachsende Fangemeinde innerhalb des in der Flower-Power-Mentalität verankerten Anti-Establishments des San Franciscos der 60er aufbaute. Mit Figuren wie Fritz the Cat etablierte sich der Künstler zunächst vor allem als schräge Underground-Ikone, bevor seine Arbeiten nach und nach an Popularität gewannen, wodurch sich Crumb allerdings nie verbiegen oder dem Mainstream angleichen ließ.
In Crumb zeichnet Zwigoff den überaus skurrilen Werdegang von Crumb nach, indem er ihn selbst in einem Großteil der Szenen vor der Kamera zu Wort kommen lässt. Aufgrund der von Natur aus eigensinnigen Persönlichkeit Crumbs entwickelt sich die Dokumentation zu weitaus mehr als einem einfachen Künstlerporträt und gerät stattdessen zur Auseinandersetzung mit dem Wesen eines Menschen, der sich auf einem rätselhaften, aber ungemein faszinierenden Grat zwischen realer Persona und schriller Kunstfigur bewegt. Neben Crumb selbst beleuchtet der Regisseur in einigen Passagen des Films zusätzlich dessen Brüder Charles und Maxon, die sich ebenfalls als äußerst speziell entpuppen.
Während Charles selbst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter noch zuhause bei der Mutter wohnt, Antidepressiva einnimmt und nie das Haus verlässt, lebt Maxon in einem spärlichen Hotelzimmer, wo er in völliger sexueller Enthaltsamkeit ein abgeschiedenes Künstlerdasein führt, um epileptischen Anfällen vorzubeugen, die in ihm bei dem Gedanken an Sex ausgelöst werden. Oftmals an der Grenze zum Voyeurismus betonte Zwigoff stets die Bedeutung von Crumbs Brüdern für dessen Lebenswandel, wodurch er das Bild einer zutiefst vorbelasteten, dysfunktionalen Familie kreiert. In den Aufnahmen, die den ohnehin immer gut gelaunten Crumb mit seinen Brüdern und dessen Mutter in überwiegend ausgelassenen, heiteren Gesprächen zeigen, spiegelt sich wiederum das Kernmotiv des Films wider, jene geradezu schizophrene Anwandlung von naiver Unbeschwertheit und düsteren Abgründen, die sich auch durch die Persönlichkeit des Künstlers zieht.
Wie die meisten gelungenen Dokumentationen gibt Crumb keine simplen Antworten auf aufgeworfene Fragen, sondern lediglich neutrale Denkanstöße, mit denen sich der Zuschauer selbst einen Eindruck bilden darf. Zwigoff, der insgesamt neun Jahre an dem Werk arbeitete und währenddessen jahrelang unter so starken Rückenschmerzen litt, dass er aufgrund von suizidalen Tendenzen eine geladene Waffe unter seinem Kopfkissen aufbewahrte, dürfte irgendwann eine persönliche Obsession für den Protagonisten seiner Dokumentation entwickelt haben. Der Regisseur porträtiert Crumb als typischen Außenseiter, der in jungen Jahren als Schüler alleine in der Ecke stand und nicht verstehen konnte, wieso alle anderen Jungs außer er von Mädchen angehimmelt wurden, während seine heutige Ehefrau Aline betont, was für ein sensibler, liebevoller Familienvater hinter dem Künstler steht.
Daneben beschäftigt sich Zwigoff jedoch auch umfassend mit Crumbs kontroverser Seite. Im Mittelpunkt stehen dabei die freizügigen Perversionen, expliziter Inzest und ein oftmals grobschlächtiges Frauenbild in dessen Arbeiten, das von Fans und Kritikern völlig unterschiedlich gedeutet und diskutiert wird, sowie Schilderungen von Ex-Partnerinnen, die von Crumbs kranken Fantasien und einem zwanghaften Masturbationsverhalten sprechen, nach dem sich der Künstler angeblich vier bis fünf Mal am Tag selbstbefriedigen würde. Am Ende ist es dem Regisseur hoch anzurechnen, dass er sämtliche Facetten des Künstlers gleichwertig zum Ausdruck bringt und den Zuschauer somit selbst darüber entscheiden lässt, wer Robert Crumb ist. Ein perverser Misogynist, der einen kommerziell erfolgreichen Weg gefunden hat, seinen verwerflichen Fantasien freien Lauf zu lassen, oder einer der intelligentesten, scharfsinnigsten Karikaturisten und Satiriker der vergangenen Jahrzehnte, der Amerika den Spiegel vorhält, in den es selbst nie zu blicken wagt?
Fazit
Terry Zwigoff, der sich in seinem Gesamtwerk stets am liebsten den Außenseitern der Gesellschaft widmet, hat in dem kontroversen Cartoonisten und Illustrator Robert Crumb einen perfekten Protagonisten gefunden. In seiner Dokumentation „Crumb“ beleuchtet der Regisseur den Werdegang des Künstlers als moralisch ambivalentes Porträt, bei dem der Zuschauer am Ende selbst darüber entscheiden darf, wie er sich dem Sujet gegenüber verhalten will. Aufgrund des objektiven Zugangs zu Crumbs Persönlichkeit sowie zahlreichen schrägen, äußerst unterhaltsamen Anekdoten, die automatisch mit der naturgemäß schrägen Persönlichkeit des Künstlers einhergehen, ist „Crumb“ für Fans ungewöhnlicher, abseitiger Dokumentationen sowieso ein unbedingtes Muss.
Autor: Patrick Reinbott