8.3

MB-Kritik

Tokio in der Dämmerung 1957

Drama – Japan

8.3

Setsuko Hara
Ineko Arima
Chishū Ryū
Isuzu Yamada
Teiji Takahashi
Masami Taura
Haruko Sugimura
Sō Yamamura
Kinzō Shin
Kamatari Fujiwara
Nobuo Nakamura
Seiji Miyaguchi
Junji Masuda
Eiko Miyoshi
Teruko Nagaoka
Mutsuko Sakura

Inhalt

Die Mutter von Takako und Akiko hat die Familie vor langer Zeit verlassen, und ihr Vater musste die beiden kleinen Töchter allein großziehen. Jetzt, da sie erwachsen sind, begreift der angesehene Geschäftsmann, wie unglücklich sie sind. Takako kehrt nach einem Streit mit ihrem trinkenden Ehemann ins Haus des Vaters zurück. Dort lebt auch ihre jüngere Schwester Akiko, die sich nach einem anderen Leben sehnt. Sie läuft dem Studenten Ken nach, der sich herumtreibt und seine Zeit mit Spielen verbringt. Als sie von ihm schwanger wird, will er nichts mehr von ihr wissen. Auf der Suche nach ihm begegnet sie einer Frau, die ein Mahjong-Lokal betreibt und Dinge aus ihrer Kindheit weiß, die nur eine Mutter wissen kann … Die vom japanischen Meisterregisseur Yasujiro Ozu stets aufs Neue variierte Geschichte vom Ende eines familiären Zusammenlebens erfährt in diesem Film eine dramatische und düstere Wendung. In einem kahlen, kalten Tokio zerbricht eine junge Frau an der Strenge und am Schweigen ihres Vaters. Das weitgehend unbekannte Werk gilt als dunkelster Nachkriegsfilm Ozus.

Kritik

Der letzte Schwarz-Weiß-Film des Meisterregisseurs schmerzlicher Melancholie ist bekannt als sein düsterster. Seinen Abschied vom poetischen Chiaroscuro, das die Empfindungen der Figuren auf subtile Weise unterstreicht oder kontrastiert, gestaltet Yasujiro Ozu zu einem Abstieg in das umfassendste Dunkel der Szenerie und Gefühle. Jeder Hoffnungsschimmer erweist sich als Irrlicht in der bitteren Studie einer zerbrochenen Familie. Deren Mitglieder sind Variationen von Figuren, die einem aus früheren Werken wie Late Spring und Early Summer vertraut sind und einem in späteren wie Equinox Flower und Late Autumn wieder begegnen. Junge Frauen, deren schlichte Zukunftserwartungen in harscher Ernüchterung enden, junge Männer, deren bescheidene Ambitionen an der tristen Realität zerschellen, eine alte Generation, die sich mit Einsamkeit und Vergeblichkeit abgefunden hat.

Vor diesem niederschmetternden Hintergrund entspringt der Lebensmut der Figuren einfühlsam beobachteten Augenblicken psychischer Intimität. Ein Wort bei einem Glas Sake, der gemeinsame Blick über den Titelschauplatz oder schlicht das Wissen um eine lange verborgene Wahrheit kann zwei distanzierte Figuren einander unvermittelt nahe bringen. Diese zärtlichen Momente sind lichte Inseln in einem Drama, das nicht nur Ozus düsterstes ist, sondern sein kältestes. Die Schneeflocken versinnbildlichen die erkaltenden Gefühle der Charaktere. Akiko (Ineko Arima, Zero no shoten) muss erkennen, dass sie ihrem Jugendfreund Kenji (Masami Taura, Soshun) nichts bedeutet. Ihre jüngere Schwester Takako (Setsuko Hara, Repast) entflieht mit der kleinen Tochter der lieblosen Ehe mit einem Alkoholiker. Beider Mutter Kisako (Isuzu Yamada, Modern People), die vor Jahrzehnten die Familie verließ, sinnt vergebens auf eine Versöhnung.

Verzweiflung und Frustration der in einem Muster aus Pflichterfüllung und moralischer Schuld erstarrten Familienmitglieder entladen sich in Abweisung und Selbstbestrafung. Zu einem gewissen Grad sind Ozus Figuren selbst Urheber ihres Unglücks. Sie verurteilen sich zu Gefangenschaft in unerfüllten Beziehungen, verbannen Menschen, bei denen sie Trost und Verständnis finden könnten, aus ihrem Dasein und beugen sich von eherner Traditionen gebotenen Zwängen. Letzte lenken das Schicksal der Schwestern in jene trostlose Bahn, der das ihrer Eltern folgt. Ironischerweise besiegelt ausgerechnet der moralgelenkte Entschluss, nicht dem sozialen Negativbild einer schlechten Mutter oder verantwortungslosen Tochter zu entsprechen, die Ausweglosigkeit. Die psychologisch und soziologisch gleichermaßen differenzierten Beobachtungen vereinen großes Schauspieldrama und Gesellschaftskritik zu einer sublimen Ode leisen Kummers.

Fazit

Im Letzten seiner Schwarz-Weiß-Klassiker erforscht Yasujiro Ozu die übergreifenden Motive von Sehnsucht, Vergeben und Vergeblichkeit, die sich als roter Faden durch sein Werk winden. Die Einsamkeit, die das von seinen Stammschauspielern verkörperte Ensemble eint, ist bedrückend und dennoch ist das zurückhaltende Familiendrama von ungeheurer visueller und narrativer Schönheit. Mit jedem Film des Regisseurs erschließt sich dessen sozialer Kosmos besser. Die Wiederaufnahme von Themenkomplexen wird zur Kunstform, die bei jeder Begegnung reicher macht.

Autor: Lida Bach
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