Bereits das Opening ist legendär: In einer leicht wackeligen Helikopteraufnahme schweben wir über den Baumkronen des majestätischen Amazonas und erblicken seine undurchdringbare Anmut, treiben weiter über mächtige Flüsse und Sandbänke, bis wir die Grazie der unberührten Natur in ihrer vollen Gänze internalisieren konnten. Begleitet werden wir von Riz Ortolanis wunderschöner Komposition, kongenial auf die ungefilterten Aufnahmen abgestimmt. Freiheit. Dann erfolgt eine herbe Zäsur und wir finden uns auf dem Aussichtspodest des Empire State Building wieder, auf dem ein Reporter jene selbstsicheren Worte in die Kamera wirft: „Man is omnipotent. Nothing is impossible for him. What seemed to be unthinkable undertakings yesterday are history today.“ Derlei offensichtliche Gegenüberstellungen von Natur und Zivilisation werden in „Nackt und zerfleischt“ im Späteren wiederholt aufgegriffen, bilden diese doch zweifelsohne die spezifische Opposition des Films. Und wenn in diesen Momenten erneut Ortolanis famose Arbeit erklingt, entsteht ein emotionaler Kontrast, den man bei der – noch – unbeschwerten Eröffnung kaum voraussehen hätte können.
Zusammen mit „Die 120 Tage von Sodom“ und „Caligula – Aufstieg und Fall eines Tyrannen“ bildet Ruggero Deodatos „Nackt und zerfleischt“ wohl das infernalische Trio, das seit jeher mit massig Verachtung von allen Seiten zu kämpfen hatte. Ironischerweise sind das, auch wenn uns das Cineasten an vielerlei Stelle einbläuen wollen, allesamt keine schlechten Filme, auch wenn sie ihre (in-)formalen Schwerpunkte natürlich von Grund auf divers zu verlagern wissen. Dass „Nackt und zerfleischt“ für massives Aufsehen sorgte, liegt in erster Linie daran, dass es sich Ruggero Deodato nicht hat nehmen lassen, den Tiersnuff zu zelebrieren, dem man im Kannibalen- respektive Mondo-Subgenre (beispielsweise in „Mondo Cannibale“) immer wieder begegnet. Selbstredend ist so etwas einfach unnötig, und wenn eine Riesenschildkröte, ein Kapuzineraffe oder ein qualvoll kreischendes Ameisenbärbaby vor laufender Kamera umgebracht werden, fällt es mehr als nur schwer, den festgehaltenen Bildern irgendwie standzuhalten. Allerdings sollte man sich bei diesem Thema, das im Ethikunterricht wahrscheinlich bis zum Kreislaufkollaps debattiert wird, nicht in fadenscheiniger Doppelmoral verheddern. Natürlich sehen wir nicht, wie unser Fleisch auf den Teller kommt, aber einem (in seinem Handwerk) ähnlichen Prozess muss es ja unterzogen worden sein.
Sich also an dem Tiertötungen festzuhalten, ist als PETA-Aktivist oder überzeugter Vegetarier irgendwo verständlich und selbst die, die sich auch mal gepflegt ein Steak in die Pfanne schlagen, werden sich an diesen Szenen nicht erfreuen. „Nackt und zerfleischt“ aber geht, hat man denn noch die Muße dazu, sich weiterhin mit dem Werk auseinanderzusetzen, tiefer, anstatt sich durchweg aus exploitiven Spitzen zu speisen. Mit dem Anthropologen Harold Monroe reisen wir in den Dschungel, in dem seit einiger Zeit eine Gruppe von Dokumentarfilmen als verschollen gilt. Und bevor die letzten Skelettteilen zusammen mit dem Filmmaterial im Busch aufgefunden werden, muss sich Monroe dem Anblick einer rituellen Bestrafung der hiesigen Indianer stellen. Weil sie fremdgegangen ist, rammt ihr der Indio unzählige Male einen klobigen Holzpflock zwischen die Beine, bis sich eine üppige Blutlache unter ihrem Körper angesammelt hat. Monroe will eingreifen, wird aber von einem seiner Gefährten aufgehalten. Die Kamera selbst wechselt während dieser Sequenz immer wieder die Perspektive: Mal in der Point-of-View-Einstellung, in der wir direkt auf die sich windende Frau am Boden blicken, um dann wieder in die Total zu springen und dem Geschehen aus der Distanz zu folgen.
Allein durch diese formalen Mittel offeriert der Film sein Interesse daran, beiden Partien Aufmerksamkeit in ihrem kulturellen Wesen zu schenken. Die Bestrafung verfolgt einem katharischen Zweck, keinem lüsternen, auch der Blick durch die Augen des Eingeborenen eine solche Vermutung suggerieren könnte. Wieder in den Vereinigten Staaten angekommen, im urbanen Schmelztiegel, sehen sich Monroe und eine Kommission des Fernsehsenders das aufgenommene Material der Dokumentarfilmer an und blicken in menschliche Abgründe. Vorab muss man sagen, dass „Nackt und zerfleischt“ in seinen kritischen Äußerungen reichlich plakative Töne anschlägt, da besteht keine Diskussion, doch der Film schafft es, mit seinen oftmals reißerischen Mitteln immer wieder ins Schwarze zu treffen. Die Dokumentarfilmer sind in die Tiefen des Amazons gereist, um möglichst authentische Aufnahmen der kannibalischen Stämme ablichten zu können. Doch in ihrer Sensationsgier hat ihnen die „Normalität“ dieser Kulturen nicht gereicht und sie alfen in widerwärtigem Sadismus nach. Dörfer werden angezündet, ein Mädchen mehrfach vergewaltigt, bis man sich nach der Herabwürdigung noch an ihrer gepfählten Leiche grinsend ergötzt. Wo die Moral der Zivilisation jene Wilderei verbietet, verstehen die eigentlich zivilisierten Menschen den Dschungel als verfügbare Projektionsfläche ihrer niedersten Triebe.
„Nackt und zerfleischt“ glückt dabei auch eine überraschend differenzierte Zeichnung der Eingeborenen, die keinen grundsätzlich bösartigen Gestus pflegen, sondern ihre natürliche Heimat nur vom feindseligen Einflüssen befreien wollen. Anders als der Mensch aus der Großstadt, der die Natur verdinglichen möchte und den blanken Lustgewinn in seinen Gräueltaten sucht. Dass das Material zum Ende an einigen Ecken und Enden noch gekürzt werden sollte, versteht sich ja von selber, doch in ihrer Gier nach Spektakel sind es nicht nur die Leichen der Indios, über die sie freimütig steigen, sondern auch die eigenen – Sie wissen es nur noch nicht. Ruggero Deodat fühlt der innerseelischen Verrohung der Moderne nach und geht dabei bis zum absolut Äußersten. Seine unvergleichlich intensive Parabel über die menschliche Hybris in der grünen Hölle ist eine Expedition in die nackte Gefühlsohnmacht. Medien-, Zivilisations- und Gesellschaftskritik vermischen und potenzieren sich bis ins Unermessliche. All diese realen und fiktionalen Extreme dienen irgendwo einem dramaturgischen Effekt und machen „Nackt und zerfleischt“ zu einer Tortur sondergleichen. Brutal und widerwärtig, gar keine Frage, aber kein debiler Exploiter, denn hinter „Nackt und zerfleischt“ steckt so einiges Relevantes.