Wie herrlich ist doch dieses Gefühl, einem Film seinen ihm inhärent erscheinenden Klassiker-Status ruhigen Gewissens zu verifizieren. Belle de jour – Schöne des Tages, ein fester Bestandteil des cineastischen Grundwissens, der am 20. Juli dieses Jahres erneut in den Lichtspielhäusern gestartet ist, zählt zu jenen Werken, die sich ihre Superlativen redlich verdient haben. Wobei, Moment. Im Zuge seiner Uraufführung musste Luis Bunuel (Der diskrete Charme des Bourgeoise), der hier den Roman des Schriftstellers Joseph Kessel adaptiert hat, einiges an Schelte beziehen. Seiner Zeit reichte das mediale Echo sogar dafür, Belle de jour – Schöne des Tages zum astreinen Skandal avancieren zu lassen, was letzten Endes natürlich mehr über die Rezeptionisten denn über den Film selbst aussagt. Dieser nämlich ist über jeden Zweifel erhaben.
Man muss an Belle de jour – Schöne des Tages in ähnlicher Form herantreten, wie man es zuletzt auch bei Paul Verhoevens Elle getan hat: Eine gewisse Sensibilisierung gegenüber der Definition von sexueller Freiheit muss gewährleistet sein, was selbstverständlich in den 1960er Jahre ebenso wenig der Fall war, wie es heutzutage der Fall ist. Mit Sensibilisierung ist indes gemeint, dass beide Filme dem Zuschauer ein gewisses Maß an Feingeistigkeit voraussetzen, um zwischen den Zeilen zu lesen. Oder im Falle von Luis Bunuel: Über die Bilder hinaus zu lesen. Der große Surrealist, dem wir Meisterwerke wie Ein andalusischer Hund, Dieses obskure Objekt der Begierde und Virdiana zu verdanken haben, hat sich innerhalb seines Outputs immer schon damit beschäftigt, die Mittel der Abstraktion zu verwenden, um den Blick auf unsere Realität zu schärfen.
Dass Bunuel es dabei jedoch immer verstand, karikatureske Überzeichnungen zu umgehen, unterstreicht dessen künstlerische Genialität dementsprechend. Belle de jour – Schöne des Tages ist ein weiteres Beweis dafür, wie das Surreale das Wahrhafte zu entschlüsseln versteht. Der Film empfängt uns in einer der Phantasien der 23-jährige Séverine (Catherine Deneuve, Ekel): In einer offenen Kutsche sitzt sie dort zusammen mit ihrem Gatten Pierre (Jean Sorel, A Lizard in a Woman's Skin). Die Tierglocken klingeln munter vor sich hin, bis die Kutsche schließlich zum Stillstand kommt und Séverine auf Befehl ihres Mannes von den Kutschern gewaltsam zu einem Baum geschleift wird. Gefesselt schlagen alsbald Peitschenhiebe auf ihren entblößten Rücken ein, bevor Pierre den Kutschern den Auftrag gibt, sich mit seiner Frau zu vergnügen.
Dass Séverine keinen Schmerz in dieser Phantasie verspürt, sondern Leidenschaft und Erregung, wird mit einem Schnitt in ihren Alltag gnadenlos konterkariert. Obgleich die schöne Blondine ihren Mann von Herzen liebt, ist sie nicht in der Lage, sich ihm körperlich hinzugeben. Sie kann ihm ihre Bedürfnisse nicht mitteilen, stattdessen verbringt das Ehepaar ihre Nächte in von einem Nachttisch getrennten Betten. Die Welt, diese gutbürgerliche Domestizierung, durch die Séverine schreitet (und vor der sie flüchten möchte) wird von Luis Bunuel als eine ungemein kalte gezeichnet. Klinische, entvölkerte Bilder werden nur dann aufgebrochen, wenn Bunuel die Farbe Rot ins Spiel bringt, die in Belle de jour – Schöne des Tages die Funktion eines farbdramaturgischen Leitmotivs einnimmt und immerzu auf das feurige Verlangen Séverines verweist. Sei der Stoff der Yves-Saint-Laurent-Garderobe, die Rosenblüten, das Blut.
Nachdem sie von einem Etablissement erfährt, in dem Frauen sich fremden Männern hingeben können, findet Séverine im Doppelleben ein Ventil, um ihre sexuellen Gelüste zu befriedigen. Belle de jour – Schöne des Tages zeichnet diesen Schritt nicht als weiblichen Treuebruch, sondern als zutiefst menschliche Triebhandlung. Séverine gerät nicht auf Abwege, sondern findet den Weg zu sich selbst, obgleich sie sich, jenseits rückständiger Moralvorstellungen der Oberschicht, auch im Zusammensein mit ihren Freiern immerzu in klaren Rollen wiederentdeckt, nur stehen diese eben nicht unter dem Banner der gesellschaftlichen Anpassung, sondern führen Séverine zur sinnlichen Selbstaufgabe. Zur Überbrückung des eigenen Egos. Dass Belle de jour – Schöne des Tages es zudem vermeidet, seine Hauptdarstellerin psychologisieren zu müssen, veranschaulicht auch, dass Luis Bunuel zu den großen Frauenregisseuren des Weltkinos gehört: Er lässt der Dame ihre Geheimnisse, so wie er den Blumen ihren Duft lässt. Ein betörend kluger Film.