Inhalt
Diesen Film betritt man wie einen tiefen Gebirgswald. Zögernd und behutsam tasten Mensch und Lasttier sich durchs steile Gelände. Die Piüüü-Rufe des Eichelhähers punktieren den Weg der beiden Eindringlinge. Unter einer Gruppe riesiger Buchen bleibt der Mann stehen und späht in die Baumkronen. Etwas ist unsichtbar herabgerieselt und hat seine Schulter gestreift. Er befühlt die Stelle, prüft den Geschmack – er ist fündig geworden. In den Wipfeln über ihm ist ein Waldbienenstock verborgen. Der Honigsammler wirft ein Seil um einen hoch gelegenen Ast und müht sich hinaufzusteigen. Der Ast birst und droht abzubrechen.
Kritik
Bedrohlich und geheimnisvoll wartet der Wald um das türkische Dorf, in dem der sechsjährige Yusuf (Bora Altaş) mit seinen Eltern lebt. Die Bäume scheinen ihm etwas mitteilen zu wollen, doch was, das vermag der kindliche Hauptcharakter von Semih Kaplanoglus atmosphärischer Coming-of-Age-Story nicht zu sagen. Yusufs Vater Yakup (Erdal Beşikçioğlu) ist ein Imker, den der Junge an besonderen Tagen beim Sammeln von Honigtau begleiten darf. Hoch in den Baumwipfeln hängen die Bienenkörbe, von deren Ertrag Yakup und Yusufs Mutter Zehra (Tülin Özen) leben. Die Eindrücke der rätselhaften Natur beflügeln die Fantasie des Protagonisten. In seinem Kopf schwirren seltsame Träume, doch sein Vater hat verboten, über Träume zu sprechen. Ein abgelegenes Dorf in den türkischen Bergen, eine einsame Kindheit voller heimlicher Ängste, ein tragisches Unglück, das alles verändert.
Die Bilder des visuell berückenden Dramas erwecken ein an magischen Realismus anklingendes Reich zwischen Kindheit und Erwachsensein. Der Titel bezieht sich nicht allein auf die trügerische Süße der Inszenierung. Mit dem Verkauf sichert Yusufs Vater ihre Existenz. Eines Tages sind die Bienen fort. Yakup bricht in die Berge auf, um einen neuen Standort für die Bienenkörbe zu finden. Doch auch nach Tagen kehrt er nicht zurück. Yusufs Besorgnis verdichtet sich zu Furcht. Er zieht allein in den Wald, um seinen Vater zu suchen. In dunklen Gelbtönen ergießen sich die Szenen wie das fließende Gold des Honigs. Die Familie lebt in Einklang mit der Natur und in Abhängigkeit von ihr. Das Gefahrvolle dieses idealistischen Verhältnisses verdeutlich eine symbolische Szene, in der Yakup an einem dünnen Ast über dem Waldboden hängen. Ein stiller Zauber liegt in den ruhigen Szenen des letzten Teils von Semih Kaplanoglus Filmtrilogie. In nunmehr drei Filmen ergründet der Regisseur den zentralen Charakter und bewegt sich dabei in der Zeit zurück. Wie in den vorangehenden Filme Süt (Milch) und Yumurta(Ei) wohnt den Naturnahrungsmitteln eine archetypische Bedeutung inne.
In fast jeder Szene erinnert ein Detail an den für die Figuren lebenswichtigen Honig, sei es eine Biene oder Handwerksgegenstände. Gleich entrückten Romangestalten wirken Yusuf und seine Eltern in der malerischen Ausstattung. Oft wirken die Figuren selbst dann allein, wenn sie es nicht sind. In den düsteren Räumen ohne Elektrizität flackert rotgelbes Herdfeuer, die Sonne strahlt golden in die Holzhütte.Die dunklen Aspekte dieses scheinbar idyllischen Lebens wie Yusufs Ausgrenzung durch seine Klassenkameraden treten hinter den traumwandlerischen Bildern zurück. Der Verzicht auf Musik betont die Stille einiger Momente und die schweigende Distanz zwischen den Charakteren. Die innige Vater-Sohn-Beziehung wird von der väterlichen Autorität überschattet. Nachdem der Vater verbietet, dass Yusuf ihm seine Träume erzählt, beginnt der Junge zu stottern. Auf die Außenseiterrolle der Mutter innerhalb der Familie und die Entbehrungen des Lebens in der einsamen Berghütte geht die Handlung niemals ein. Zu vieles bleibt verborgen in dem versunkenen Werk, das besser als Teil eines größeren Ganzen funktioniert denn als eigenständiger Film.
Fazit
Kaplanoglu verlässt sich auf die visuelle Verführungskraft der Kamera. Die Figuren scheinen ihm Modell zu sitzen wie einem Maler, der sie mit der Kamera anstelle des Pinsels zeichnet. Dagegen bleiben die schwelenden emotionalen Konflikten und die komplexen Beziehungen der Protagonisten untereinander jedoch zu wenig ausgearbeitet.
Autor: Lida Bach