MB-Kritik

Anne at 13,000 ft 2019

Drama

Inhalt

Anne ist Ende 20 und arbeitet in einem Kindergarten in Toronto, die Kinder lieben sie, seit kurzem wohnt sie in ihrer eigenen Wohnung, und beim Fallschirmspringen ist sie in ihrem Element. Die Kamera bleibt in ihrer Nähe, nimmt alle ihre Bewegungen wahr, Begeisterung, Unruhe, Apathie, und registriert ihre Stimmung, die von jetzt auf gleich kippen kann. Sie registriert auch Warnzeichen, die man zunächst übersehen könnte: ihre beinah ans Infantile grenzende Begeisterungsfähigkeit, das Glas Wein zu viel, unangemessene Streiche. Ihr Umfeld bemerkt etwas, aber niemand spricht aus, was Annes Problem sein könnte.

Kritik

In seinem dritten Spielfilm hängt Kazik Radwanski (Out in That Deep Blue Sea) mit der Kamera an seiner sprunghaften Protagonistin wie die problematischen Kinder der Tagesstätte, in der die junge Titelfigur (Deragh Campbell, I Used to Be Darker) einen Teilzeitjob gefunden hat. Die schwer erziehbaren Kids lieben die unangepasste Betreuerin, deren Verspieltheit ihr intuitiven Zugang zu den Schützlingen verschafft. Anders die Kolleginnen. Sie sehen in dem impulsiven Neuzugang statt einer Unterstützung eher einen weiteren Fürsorgefall, als der Anne augenscheinlich auch im familiären Umfeld wahrgenommen wird.

Konflikte um Selbstständigkeit und die gesellschaftliche Tendenz zur Pathologisierung jedes abweichenden Verhaltens, mag es so harmlos sein wie ein herumgeworfener Pappbecher, lungern unangetastet am Rand des erratischen Porträts, das so ziellos wirkt wie seine Hauptfigur. Sie ist auf den ersten Blick enorm sympathisch und auf den zweiten Blick ebenso anstrengend. Diese Ambivalenz überträgt sich unweigerlich auf die intime Studie ihres unspektakulären Alltags, dessen die Binnenhandlung rahmendes Highlight ein Tandemsprung ist - mutmaßlich aus der titelgebenden Fallhöhe. 

Mehr metaphorische oder dramaturgische Komplexität mangelt der schemenhaften Charakterskizze, Teil einer motivischen Trilogie, auf die Radwanskis eindimensionale Inszenierung nie Neugierde weckt. Ohne Vergangenheit und erkennbare Motive ist Anne letztlich kaum mehr als das dramatische Klischee der attraktiven Kindfrau, zu der sich ältere Männer reihenweise hingezogen fühlen. Er selbst ist da keine Ausnahme. Die sozialen und psychosexuellen Konstrukte hinter solchen Verhaltensmustern erkundet er dabei so wenig wie diagnostische Implikationen und mögliche Konsequenzen des beiläufig verniedlichten Verhaltens.

Fazit

Regisseur und Drehbuchautor Kazik Radwanski beschränkt seinen Fokus ganz auf die unbeständigen Emotionen der jungen Protagonistin, die sich gerade aufgrund dieser extremen Nähe nie als überzeugend ausgerarbeitete Persönlichkeit erschließt. Indem er in seinen konzentrischen Aufnahmen maximal an die intensiv aufspielende Deragh Campbell heranrückt, verzerrt er neben der Tiefenschärfe auch die Zuschauersicht auf die ostentativ als Außenseiterin aufgebaute Figur. Hinter deren Gefühlsaufwallungen und kuriosen Streichen gähnt eine psychologische Leere, die noch ermüdender ist als austauschbare infantile Eskapaden.

Autor: Lida Bach
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