„Ich glaube, ich bin wahrscheinlich der erste Regisseur auf dieser Bühne, der sagt: Ich wünschte, ich hätte den Film nicht gedreht!“
Diesen Satz sagte Mstyslav Chernov unmittelbar in seiner Dankesrede für den soeben erhaltenen Oscar in der Kategorie bester Dokumentarfilm. Warum sich der zu diesem Zeitpunkt bereits mehrfach für seinen Film 20 Tage in Mariupol ausgezeichnete Chernov wünschte, sein Film würde nicht existieren, ließ sich für alle, die den Film bis dahin nicht gesehen hatten, allenfalls erahnen. Doch das Grauen, dass er tatsächlich vor Ort in seiner Doku festgehalten hat, rückt erst ins Bewusstsein, wenn man die Bilder mit eigenen Augen sieht. Der Film ist schockierend, intensiv, eindringlich und erschütternd und definitiv nichts für schwache Gemüter, denn Chernov und sein Team dokumentieren wirklich alles und zeigen Zerstörung, Tod und Verzweiflung ungeschönt und ungekürzt. Es sind Bilder, die nicht nur sprachlos machen, sondern die noch lange nachwirken und im Gedächtnis bleiben. Bilder die traumatisieren können. Das Drama des Krieges in all seinen Akten und mit allen Facetten. Diese Wirkung erzielt die Dokumentation insbesondere dadurch, dass hier die Zivilbevölkerung mit ihrem Leid im Mittelpunkt steht und die Kamera nah genug am Geschehen ist, um nicht nur Mitgefühl zu wecken, sondern die ganze Bandbreite der Gefühle von Trauer, Verzweiflung, Machtlosigkeit bis hin zu Wut selbst zu durchleben.
„Kriege beginnen nicht mit Gefechtslärm, sie beginnen mit Stille.“
Dabei hatten Mstyslav Chernov und seine Mitstreiter Vasilisa Stepanenko und Evgeniy Maloletka zunächst selbst nicht geahnt, welches Ausmaß und welche Wirkung ihre Arbeit erreichen sollte. Bereits kurz vor Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 begaben sich die drei Journalisten nach Mariupol. Es war kein Zufall, dass sie sich gerade diese Stadt aussuchten. Alle drei hatten bereits jahrelang Erfahrung in der Kriegsberichterstattung und hatten seit 2014 mehrfach über den Krieg in der Ukraine berichtet. Chernov berichtet von seinen Erfahrungen, die er bereits 2015 machte, als die Hafen- und Industriestadt am Asowschen Meer erstmals Ziel russischer bzw. separatistischer Angriffe war, damals jedoch erfolgreich verteidigt werden konnte. Man war sich bewusst, dass Mariupol wieder ein Zentrum der Auseinandersetzung werden wird, da hier die wichtige Landbrücke zwischen Russland und der annektierten Krim verläuft. Doch mit den tatsächlichen Dimensionen hatte keiner von ihnen gerechnet. Auch die Bewohner der Stadt sind von der Heftigkeit der Angriffe überrascht und versuchen verzweifelt, sich in Sicherheit zu bringen. In den ersten drei Tagen fliehen ein Viertel der Einwohner der Stadt und mit ihnen nach und nach alle internationalen Journalisten, da Mariupol langsam eingekesselt wird. Zurück bleiben die für die Presseagentur Associated Press tätigen Reporter Chernov, Stepanenko und Maloletka.
„Es ist unser Land und wir müssen seine Geschichte erzählen.“
Ihre Beweggründe sind klar und fast schon heroisch. Trotz immer größerer Gefahr durch Beschuss und Bombenangriffe wollen sie dokumentieren, was in Mariupol geschieht und wollen es nicht nur für die Ukraine, sondern für die gesamte Welt sichtbar machen, was wirklich passiert, um die russische Kriegspropaganda zu widerlegen. Ein zentraler Anlaufpunkt des Teams ist das Notfallkrankenhaus Nr. 2. Hier offenbart sich, wer die wahren Opfer dieses Angriffskrieges sind, nämlich die Zivilbevölkerung. Immer wieder werden Schwerverletzte ins Krankenhaus eingeliefert und viele von ihnen sind Kinder. Während sich die Journalisten zurückziehen wollen, um die Behandlungen nicht zu stören, werden sie von weinenden Ärzten und Pflegepersonal gebeten, gar angefleht, weiter zu filmen, um die Gräueltaten der russischen Armee festzuhalten. Es soll eine Botschaft an den Aggressor sein und die Lügen des russischen Regimes entlarven, dass sie nur zum Schutz der Zivilbevölkerung agieren und diese nicht angreifen. Doch in den folgenden Tagen zeigt die Dokumentation, dass das Drama immer größer wird. Immer schockierender werden die Aufnahmen. Mehr Verletzte, mehr Tote, mehr Zerstörung. Vor allem die zivile Infrastruktur wird unter Beschuss genommen: Wohnhäuser, Feuerwachen, Krankenhäuser. Vorläufiger Höhepunkt ist der Angriff auf die Geburtsklinik. Die dabei entstandenen Bilder gehen um die Welt. Aber sie können das Ausmaß des Albtraums von Mariupol noch bei weitem nicht erfassen. Dieses wird zwar durch das 20-tägige Tagebuch des Grauens umfangreich und erschreckend deutlich dokumentiert, aber der Kampf um Mariupol und die Zerstörung der Stadt dauerten noch mehr als 60 Tage an und in dieser Zeit verloren noch viele Menschen ihr Leben. Das Team der Dokumentation musste durch das Vorrücken der Russen und der nach außen gedrungenen Informationen und Bilder irgendwann selbst um sein Leben fürchten und nutzte daher eine der letzten Möglichkeiten zur Flucht. Es ist nicht auszumalen, was ansonsten noch alles auf Film hätte gebannt werden können.
„Gute Menschen werden besser, schlechte Menschen werden schlechter!“
20 Tage in Mariupol ist aber nicht nur ein Zeitdokument über den Krieg in der Ukraine, sondern zugleich wird durch den Film die Bedeutung einer unabhängigen Presse und insbesondere von Kriegsreportern gezeigt. In der heutigen Zeit ist es zwar grundsätzlich einfach für jeden immer und überall Fotos und Videos zu machen und diese in sekundenschnelle im Internet zu verbreiten, aber es gibt Situationen und Momente, in denen sonst niemand filmt oder filmen möchte. Nur so haben es die Aufnahmen der verzweifelten Eltern, die um ihre Kinder trauern, der Ärzte, die mit letzter Kraft um das Leben ihrer Patienten kämpfen, die Leichenberge und die Massengräber in den Film geschafft. Genau diese Aufnahmen machen die Dokumentation so erschütternd, emotional und extrem bewegend. Bilder, die man in Europa längst als Relikt vergangener Tage oder aus weit entfernten Ländern betrachtet hat, deren schockierende Wirkung man gar nicht in Worte fassen kann und doch spiegeln sie leider heute den Alltag in vielen ukrainischen Städten wider. Die starke emotionale Wirkung erhält der Film auch dadurch, dass die Toten nicht nur anonym bleiben, sondern Namen erhalten, soweit sie bekannt sind. 20 Tage in Mariupol zeigt aber ebenso die Schwierigkeiten diese Bilder der Welt zugänglich zu machen. Wenn die Stromversorgung zusammenbricht und das Internet und Mobilfunknetz nicht mehr funktioniert, braucht man Helfer und Unterstützer, die Wege und Möglichkeiten finden. Doch trotz vieler Helden in den Krankenhäusern, provisorischen Luftschutzkellern und auf den Straßen, die sich unermüdlich um diejenigen kümmern, die die Hilfe am dringendsten benötigen, gibt es auch diejenigen, die den Reportern feindlich gesinnt sind oder die Situation zu ihrem Vorteil nutzen und plündern. Nicht weil es ihnen an Wasser, Lebensmitteln und Medikamenten fehlt, sondern allein um sich zu bereichern. Diese Dokumentation demonstriert, wie unterschiedlich Menschen im Krieg mit all dem Leid umgehen. Manche wandern desillusioniert durch die Stadt, andere verfallen in Panik, einige wachsen über sich hinaus und andere offenbaren ihre schlechte Seite. 20 Tage in Mariupol gelingt es auch hier ein ehrliches und ungeschöntes Bild der menschlichen Natur einzufangen.